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„Unser Alltag ist alles andere als witzig“ Mit dieser kleinen
Anmerkung eröffnet Martina Wiechenthaler, ihres Zeichens Leiterin
der Wohngemeinschaft, die in einem revitalisierten Altbau liegt, das
Gespräch über den Alltag hier, über ihren beruflichen Werdegang
und das Leben als Sozialarbeiterin im Allgemeinen:
Ich habe in Wien eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin gemacht an
der Akademie für Sozialarbeit in Wien. Dann habe ich relativ
lange als Sozialarbeiterin bei der Gemeinde Wien gearbeitet,
in der MA12 beim Referat für Individualhilfe und Erwachsenen-
betreuung. Was war das? Ich habe mich um Leute gekümmert,
denen die Abläufe der städtischen Verwaltung zu schwierig und
kompliziert waren oder wo die Lebensgeschichten so verwickelt
waren, dass man mit einem einfachen administrativen Zugang nicht
weitergekommen ist. Weil die Leute eben eigen sind und man sich
ihnen durch Beziehungsaufbau ein bisserl genähert hat und ihnen
so helfen konnte, sich zurecht zu finden.
Altlast und Neuland
So um die 40, wo persönliche Entscheidungen fallen müssen:
also Beamtin bleiben oder nicht bleiben – ich war damals schon
pragmatisiert –, habe ich mich dann beherzt entschlossen, das
Dienstverhältnis aufzulösen und bin weggegangen von der
Gemeinde Wien. Ich habe mir damals gedacht, das kann es ja
wohl nicht gewesen sein. Als Anfängerin bei der Gemeinde wurde
man ja gar nicht gefragt, man wird einfach pragmatisiert, das ist
einfach so passiert. Und dann habe ich eben am freien Markt
etwas gesucht und bin im Behindertenbereich relativ zufällig gelan-
det, sozusagen nach dem Motto - so wie viele, die im Sozialberuf
sind, wenn sie wechseln wollen und dann zu dem Punkt kommen:
gelernt hast halt nichts anderes! Du hast die Ausbildung und das
Leben ist halt auch nicht einfach. Dann habe ich mich in einen
Bereich hineingeworfen, wo damals Leute gesucht worden sind.
Das war eben bei einer Behindertenorganisation und ich bin relativ
unkompliziert genommen worden, weil ich gut qualifiziert war und
habe damit für mich ein Neuland betreten. Also das habe ich als
sehr aufregend empfunden, weil es doch ein ganz eigener Bereich
war, den ich bin zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht beobachtet
hatte. Und so habe ich mir die Arbeit im Behindertenbereich
erschlossen, habe dann fast sieben Jahre in einer Wohngemein-
schaft gearbeitet und viele Aufs und Abs in der Zeit erlebt.
Nach einer kurzen Berufspause 2001 bin ich dann bei Auftakt
gelandet. Ich gehöre so ein bisserl zu den Burnout -Typen und da
braucht man diese Pausen. In diesen Pausen tauchen dann auch
immer so Fragen auf wie „Kann man den Sozialbereich irgendwie
vermeiden für das weitere Leben?“, oder „Habe ich auch andere
Art von Qualifikationen?“ Diese Frage hat mich immer begleitet,
aber auf der anderen Seite bin ich eine leidenschaftliche
Sozialarbeiterin von meiner Haltung und von meiner Mentalität her.
Der Beginn bei Auftakt, war für mich eine aufregende Zeit. Da war
ich in einer Wohngemeinschaft, die - bedingt durch einen Träger-
wechsel - mit einem komplett neuen Team besetzt worden ist,
sozusagen von einem Tag auf den anderen. Wir waren schon
vorbereitet, aber in der Früh ist die alte Crew außer Dienst
gegangen und am Nachmittag hat das neue Team angefangen.
Wir waren natürlich schon eingeweiht in die Klientengeschichten
und untereinander haben wir uns auch ein wenig gekannt.
Aber trotzdem war das eine heftige Angelegenheit auch für die
Klienten. Ich habe als Betreuerin angefangen und als die Leiterin
dann gekündigt hat bin ich in die Leitungsposition nachgefolgt.
Dann sind die Bewohner dieser Wohngemeinschaft auf andere,
passendere Wohnplätze übersiedelt. Das war dann meine
Aufgabe, das zu managen. Der Standort wurde mit neuem
Bewohnerkonzept und neuem Team besiedelt und einige Jahre
geführt. Nach einer mehrmonatigen Berufspause habe ich dann
die Leitung der Wohngemeinschaft hier übernommen. Und jetzt,
wo ich schon wieder fast drei Jahre da bin, bekomme ich wieder
das Bedürfnis nach Veränderung – ja, die Mühen der Ebene,
das ist so eine Sache, eine ganz andere Art von Arbeiten.
Bei uns ist schon was los!
Sechs Männer und drei Frauen mit unterschiedlicher Behinderung
wohnen hier. Im Vergleich zu den anderen Auftakt -Wohngemein-
schaften sind wir wahrscheinlich noch eine der homogeneren
Gruppen: schon schwere Behinderungen, vor allem nichtsprechen-
de Menschen bis auf ein, zwei Ausnahmen, dazu Schutzhosen-
träger, daher ein relativ hoher Reinigungs- und Hygieneaufwand.
Keine Pflege im engeren Sinn, also schon Leute, die selbständig
essen können, und sich auch anziehen und ausziehen - aber Koten
und Urinieren mit und ohne Windel im Bett oder auch im Gemein-
schaftsbereich- das ist schon ein starkes Thema. So um die
30 Jahre ist das Gros der Bewohner. Der Jüngste ist 19 und der
Älteste ist 39 Jahre alt. Es sind durchwegs alles eher abhängige
Persönlichkeiten, sehr stark Betreuerorientiert!
Es ist hier das immer wiederkehrende Thema: Der kriegt was, ich
will auch was! Eifersüchteleien, Nicht -warten -können, wenig
Frustrationstoleranz, wenig Ichstärke. Das Gemeinschaftsleben spielt
sich stark nach dem Motto ab, wie man das bei Geschwistern
kennt oder bei Kleinkindern: wenn der eine was bekommt und der
andere nicht, dann wird er unruhig und beginnt unrund zu laufen,
Wohngemeinschaft Radetzkystrasse
Radetzkystrasse 11, 1030 Wien
DSA Martina Wiechenthaler
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