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gemacht haben soll, wenn ich den Irrtum nicht aufgeklärt hätte.
Das ist auch interessant, wie Bilder von Leuten entstehen,
die man nicht hinterfragt. Das waren auch interessante
Beobachtungen.
Die Reaktionen der Klientinnen und Klienten richtig einzuschät-
zen, die sich verbal nicht mitteilen können, ist nicht einfach:
wir sind zum Beispiel einmal mit einer Klientin spazieren
gegangen und nach einer Weile gibt sie mir und der
Betreuerin eine Ohrfeige. Daraufhin ist die Betreuerin
hergegangen und hat ihr ihre Hände hinter dem Rücken leicht
verschränkt, sie hat sie nur ganz leicht gehalten und so ist
diese Bewohnerin wie ein frommes Lamm weiter spaziert,
ganz brav, ohne sich zu wehren. Das ist ein Trick, den die
Betreuer kennen, aber warum die Klientin vorher zugeschlagen
hat – keine Ahnung. Sie könnte schon müde gewesen sein,
sie könnte weitermarschieren wollen, wir haben das diskutiert,
aber es bleiben alles nur Vermutungen, die man da anstellen
kann. In diesem Zusammenhang ist es manchmal schwierig
Handlungen richtig zu interpretieren, vor allem wenn
Klientinnen oder Klienten Handlungen setzen, wo die Betreuer
selbst nicht wissen warum und weshalb?
Die Studie spiegelt meine Beobachtungen wider, sie werden in
Relation gesetzt zu dem, was die Betreuer über ihre Klientinnen
wissen. Wenn die Betreuerinnen und Betreuer keine Gründe für
das Verhalten ihrer Klienten nennen können, kann ich es auch
kaum wissen, ich bin kein Wunderwuzi, der alles weiß!
Ich habe aber sehr wohl einige Situationen analysieren und
erklären können, wo es zu Eskalationen gekommen ist und
zum Beispiel einem rabiaten Bewohner ein Bedarf gegeben
werden musste. Bedarf bedeutet, einen Bewohner mit
Medikamenten zu beruhigen, wenn jemand außer Rand und
Band geraten ist. Das wird dann auch dokumentiert. Sollte
aber nicht oft vorkommen, denn wenn‘s oft vorkommt, heißt
das, dass eine Unzufriedenheit da ist und die Ursache erkannt
werden müsste. Und die Betreuerinnen und Betreuer machen
sich da oft sehr viele Gedanken. Aufgrund meiner genauen
Aufzeichnungen konnte ich nachweisen, warum dieser
Bewohner am Abend ausgeflippt ist, er hat den ganzen
Nachmittag über nur Vorhaltungen zu Ohren bekommen und
keine Anerkennung und Wertschätzung erfahren.
Aber wie gesagt, die Betreuer machen sich in der Regel sehr
viele Gedanken über unzufriedene Bewohner. Ein Bewohner ist
zum Beispiel immer mit schlechter Laune nach Hause gekom-
men. Da haben die Betreuer in der Werkstatt angerufen, was
denn los sei. Dort haben sie gesagt, dass der Bewohner die
Werkstatt immer mit guter Laune verlässt. Dann haben sie den
Fahrtendienst angerufen, ob es da etwas gibt, was den
Bewohner stört. Und da hat der Fahrer gesagt, dass er neben
einem Klienten sitzt, der immer die anderen Fahrgäste, die in
seiner Nähe sitzen, schlägt. Daher also die schlechte Laune.
Dann ist das geändert worden und seither kommt der
Bewohner wieder gut gelaunt nach Hause. Also in solchen
Situationen engagieren sich die Betreuer äußerst stark.
Dann gab es einen, der war immer schlecht gelaunt, wenn es
um das Essen gegangen ist. Da haben sie viel ausprobiert.
Vielleicht mag er etwas auf dem Tisch nicht, vielleicht braucht
er einen anderen Sitzplatz. Eines Tages haben sie ihm das
Essen aufs Zimmer gebracht und genau das war es, was
er wollte. Er wollte alleine in seinem Zimmer, wo es einen
kleinen Tisch gibt, essen. Als Heimkind und langjähriger
„Steinhofinsasse”, hat er es genossen, endlich beim Essen
alleine zu sein. Daraufhin durfte dieser Bewohner das Essen
in sein Zimmer tragen und dort essen. Nach einigen Tagen
hat ihm das nicht mehr gefallen und er ist selbstständig an den
gemeinsamen großen Tisch zurückgekehrt. Da braucht es also
viel Phantasie und Einfühlungsvermögen, einige Betreuerinnen
und Betreuer können das sehr gut. Das ist auch ein wenig wie
bei Babys, die der Bauch zwickt und es nicht sagen können.
Bereichernde Geschichten
Das Interessante in den Wohngemeinschaften ist auch, dass oft
nichts passiert. Der eine sitzt da und trinkt Kaffee, der andere
liest eine Zeitung, der nächste schreibt auf einem Blatt Papier.
Da passiert überhaupt nichts. Es läuft alles sehr langsam ab,
die Leute lassen sich nicht stressen, sie lassen sich nicht unter
Druck setzen. Das hat mir sehr gut gefallen. Und in diesen
ruhigen Phasen war es einfach für mich, die verschiedenen
Aktionen in Stichwörtern zu notieren und sie am Abend zu
Hause in den PC zu übertragen. Grundsätzlich habe ich
versucht, in jeder Wohngemeinschaft die Vorkommnisse einer
ganzen Woche zu protokollieren. So war ich in jeder
Wohngemeinschaft je einmal in der Früh, vom Aufstehen der
ersten Bewohner bis der letzte außer Haus war, anwesend.
Ich war nachmittags vor Ort, als der erste Bewohner aus der
Werkstatt nach Hause kam bis zum Abendessen und
Schlafengehen und zusätzlich habe ich jeweils einen Besuch
am Wochenende abgestattet, bin also entweder am Samstag
oder Sonntag in einer Wohngemeinschaft gewesen. Damit ist
die ganze Woche abgedeckt. Ich habe alles ziemlich genau
dokumentiert. Am Samstag und Sonntag ist eine ganz andere
Dynamik vorhanden, alles ist ruhiger, es gibt weniger Stress
für die Betreuer.
Den Intimbereich und somit die Pflege habe ich aus meinen
Beobachtungen weitgehend draußen gelassen. Da geht es mir
um die menschliche Würde, die gewahrt werden soll.
Sonst muss ich zu den Wohngemeinschaften sagen, dass
überall eine unterschiedliche Atmosphäre herrscht, was sehr
schön ist! Ich bin beeindruckt von den Persönlichkeiten der
Menschen, die betreut werden. Eigentlich beneide ich sie
bis zu einem gewissen Grad, weil sie sich gegen alles
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