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hat meine Hand genommen und hat mich auf die Terrasse
gezogen, da sind wir ein wenig gegangen, da haben wir
eine Runde gedreht und das hat ihr sichtlich Spaß gemacht.
Dann sind wir wieder rein, haben Wasser getrunken, dann
musste ich mit ihr wieder raus und haben noch eine Runde
absolviert. Das hat ihr alles sehr gut gefallen, sie hat richtig
gestrahlt. Und dann hat sie etwas Ungewöhnliches gemacht,
sie ist zu einem Mitbewohner gegangen, der allein am Tisch
gesessen ist, hat ihn gestreichelt, hat ihn liebkost und hat
sozusagen ihre positiven Emotionen sofort weitergegeben.
Das hat dann zu einer Diskussion mit den Betreuern geführt.
Wie viel Nähe und Distanz soll es in der Betreuung geben?
Viele wollen keine engen Beziehungen entstehen lassen.
Nach meiner Erfahrung hängt das Thema Nähe und Distanz
viel von den Klientinnen und Klienten ab, sie wissen ganz
genau, dass sie die Gunst der Stunde nützen müssen.
Wenn ich in eine Wohngemeinschaft rein gekommen bin,
konnte es passieren, dass ich von verschiedenen Personen
bestürmt und belagert worden bin. Da ist ein Neuer, dem
kann ich meine Geschichte erzählen, den kann ich verein-
nahmen. Und ich habe mir dann die Karriere einiger
Bewohner angeschaut. Viele Karrieren sind durch den
Wechsel von Betreuern gekennzeichnet. Familie - Wohn-
gemeinschaft oder Familie – Kinderheim – „Steinhof” -
Wohngemeinschaft, das heißt für viele ist ein Betreuer-
wechsel ein ganz normaler Teil ihrer Biografie. Wenn ein
Bewohner oder eine Bewohnerin Betreuer hat, und die gut
miteinander können, ist es fein und sie können das dann
auch genießen, gleichzeitig aber wissen sie, dass sie eines
Tages, ja vielleicht schon nächste Woche, den lieben
Betreuer und die liebe Betreuerin verlieren werden. Daher ist
es für die meisten Bewohnerinnen und Bewohner, von eini-
gen Ausnahmen abgesehen, kein großes Drama, wenn es zu
einem Betreuerwechsel kommt. Schließlich müssen die
Betreuerinnen und Betreuer selbst entscheiden, wie viel
Nähe und Distanz sie zu den KlientInnen aufbauen wollen,
es handelt sich dabei um eine Persönlichkeitsgeschichte.
Verzerrte Realität
Zum Teil war das am Anfang eine Belastung, wenn ich als
Neuer belagert worden bin, weil ich mir immer gedacht habe,
dann vernachlässige ich die anderen. Ich wurde vorwiegend
von den Verbalen bestürmt: „Also komm her, spielen wir was!”
Dann haben wir eben was gespielt. Das war für mich
dann insofern kein Problem, weil ich wenigstens eine Person
einmal gut kennenlernen konnte. Und dann waren diese Leute
ja auch nicht immer da. Da konnte ich dann meinen Blick zu
den anderen erweitern. Ich verstehe jetzt, dass man bei
vereinnahmenden Klienten als Betreuer auf Distanz gehen
muss, weil du für alle da bist und nicht nur für einen. Dass man
als Fremder ausgenutzt wird, ist okay. Dann bin ich eben mit
einem Fußball spielen gegangen, weil einer das wollte und
war in dieser Zeit weg von den anderen. Aber das ist eben
Teil der teilnehmenden Beobachtung, wo man sich von den
Untersuchungspersonen leiten lässt.
Natürlich ist man als Fremder auch Störfaktor, das habe ich ein
paar Mal vor allem bei den Betreuern, weniger bei den
Klienten, bemerkt. Dabei habe ich dem Betreuungspersonal
versucht die Angst zu nehmen, dass ich kein Kontrollorgan bin,
dass ich nur schauen will, wie hier die Alltagsarbeit funktioniert
und dass wir alles besprechen, was mir auffällt. Aber es war
so: da kommt einer im Auftrag der Zentrale und schaut uns zu!
Bei einer Wohngemeinschaft ist es mir besonders aufgefallen,
da haben sie wahrscheinlich den Auftrag bekommen, dass sie
sich g‘scheit aufführen sollen. Da haben sie die Weisung
bekommen anzuklopfen, bevor sie ein Zimmer von einem
Bewohner betreten. Normalerweise macht man das auch,
weil es ja schließlich um die Intimsphäre der Klienten geht.
Da haben sie also angeklopft, haben aber nicht auf eine
Antwort gewartet und sind gleich ins Zimmer rein. Oder sie
haben zu mir gesagt, dass sie jetzt vergessen haben anzu
klopfen. Wenn das Anklopfen normal ist, habe ich das
automatisiert, wenn es nicht üblich ist, passieren Fehler!
Die Leute können sich nicht von dem einen auf den anderen
Tag umstellen!
Einige Betreuer waren gegen Dienstende sehr genervt,
da sind sie sehr laut gegenüber den Bewohnerinnen und
Bewohnern geworden. Und wie sie mich dann wahrgenom-
men haben, sind sie mit dem Volumen runter gefahren. Also in
diesem Sinne verzerrt man alleine durch seine Präsenz die
Realität sowohl bei den Klienten und Klientinnen als auch beim
Betreuungspersonal, hier könnte nur eine verdeckte teilnehmen-
de Beobachtung Abhilfe schaffen. Aber ehrlich gesagt, ist es
mir in diesem Bereich lieber, ich spiele mit offenen Karten und
nehme dafür einige Schauspielereien in Kauf und habe dafür
hinterher ein gutes Einvernehmen mit den Betreuerinnen und
Betreuern, deren Arbeit ich ja grundsätzlich sehr schätze.
Richtige Interpretationen
So wie man bei jedem neuen Betreuer als Klient auslotet, was
reingeht und was nicht, so haben sie es auch mit mir gemacht.
Wir sind zum Beispiel in der Küche gesessen und es wurde
von einer Betreuerin das Abendessen vorbereitet. Da hat es
Leberkäse gegeben, er wurde in Scheiben geschnitten und
sollte nur noch gebraten werden. Doch vorher genehmigte sich
die Betreuerin noch eine Zigarettenpause und ich war alleine
in der Küche mit drei Bewohnern. Und da ist eine aufge-
standen und hat vom Leberkäse gekostet und weil er ihr so
gut geschmeckt hat, hat sie gleich zwei weitere Scheiben
gegessen. Dann ist die Betreuerin zurückgekommen, hat sofort
gesehen, dass plötzlich weniger Leberkäse da war und hätte
dann beinahe den Falschen verdächtigt, der das schon einmal
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