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Freundin, wo wir sie uns im täglichen Leben selbst aufbauen.
Menschen behindern Menschen. Die Behinderung beginnt bei
uns selbst, nicht erst körperlich, sondern schon geistig.
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Was soll ich jetzt aus diesem Thema machen? Ich schnappe
langsam über und möchte am liebsten einen Mann in der
U-Bahn, der mir auf zwei Krücken und nur einem Bein entge-
gen kommt, fragen, wo er das zweite Bein gelassen hat!?
Inzwischen sickert in mein Hirn mein eigener Alltag, in dem ich
mich von ‚Autisten‘ umgeben fühle. Nein, nicht unbedingt von
Autisten, sondern von Menschen, die so stark fokussieren, dass
sie ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen. Und die gibt es
zuhauf. Ich frage, niemand antwortet. Jeder lebt in seiner eige-
nen Welt und nimmt den anderen nicht mehr wahr. Ich bin
wohl auch nicht mehr ganz dicht.
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Endlich erreichen mich aus dem Schweizerischen ein paar
Zeilen, sehr persönlich, sehr ehrlich:
„Was ist behindert? Diese Frage löst bei mir sofort die Frage
aus, bei wem fängt die Behinderung an und wo hört sie auf?
Es passiert mir nämlich, dass Menschen mit Behinderungen bei
mir das Gefühl auslösen, dass ICH behindert sei. Auf einmal
weiß ich nicht mehr, wie ich mich verhalten soll – wie verhält
man sich denn ‚korrekt‘? Soll man Hilfe anbieten, wenn
jemand mit dem Rollstuhl vor einer Stufe steht oder wirkt das
bevormundend und vielleicht sogar beleidigend? Und was,
wenn man hilft und ich hätte nicht genügend Kraft und der
Rollstuhl fällt um? Soll man überhaupt hingucken oder lieber so
tun als sei alles ‚normal‘ und sich nicht kümmern? Ich werde
unsicher und etwas ärgerlich weil ich mich auf einmal – schein-
bar grundlos - hilflos fühle. Ich gehe einfach weiter und fühle
mich irgendwie schlecht.
Wenn ich es fertig bringe und stehenbleibe und helfen
darf/kann, dann fühle ich Freude – es wäre ja eigentlich ganz
einfach … manchmal …
Warum lernt man in der Schule so viele unnütze Sachen, die
man sofort wieder vergisst, aber wird nicht auf diese
Situationen vorbereitet? Das wäre doch schön – einmal pro
Woche statt zwei Stunden Chemie (ich habe von Chemie
gar nichts verstanden …) etwas mit Menschen mit
Behinderungen machen und so von Anfang an einen
unverkrampften Zugang/Umgang finden. Eine Leichtigkeit,
die beiden Seiten gut tun würde.
Könnte ich ein Leben mit einer Behinderung meistern? Wenn
ich das jetzt für mich mit ‚wahrscheinlich nein‘ beantworte,
dann dreht sich das ganze Bild. Die ‚Gesunde‘ ist nicht auto-
matisch die Starke, sondern der Mensch mit Behinderung ist
der Meister. Kann das sein? Empfindet das ein Betroffener so?
Manchmal?
Die Begegnung mit diesen Menschen macht mir immer wieder
bewusst, wie kostbar Gesundheit – also in diesem Fall
Unversehrtheit – ist. Meine eigene Gesundheit, die es mir
erlaubt so unabhängig zu sein und jede meiner Bewegungen
und mein Handeln frei und weitgehend uneingeschränkt zu
bestimmen. Die Freiheit zu TUN und zu LASSEN. Dieser
Gedanke macht mich wieder etwas gelassener, demütiger und
dankbarer, der Gedanke rückt die eigene Welt wieder etwas
gerade. Was rückt die Welt von einem Menschen mit
Behinderung wieder gerade? Geht das überhaupt?
Also gut – was ist behindert? Menschen mit Behinderungen
machen mir meine eigenen Grenzen in meinem Kopf bewusst.
Und das ist eine Chance. Für beide Seiten.“
Es hat sich übrigens sonst niemand für meine Fragestellung
erwärmen können!
Bestimmte Fragen darf man einfach nicht stellen.
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