55
die Umstehenden auch. Ich bleibe stehen und sage nichts.
Was den Schimpfenden noch wütender und lauter macht. Ich
gehe schließlich und deponiere im Gehen meine Zweifel an
der Menschheit geistig am nächsten Hauseck.
5
Zu Hause finde ich endlich wieder ein Mail vor: Nein, man
habe genug zu tun, Arbeit bis über die Ohren und möchte sich
mit dem Thema Behinderung nicht auseinandersetzen! Ich
möge nicht böse sein darüber. O.K. nein, bin ich nicht.
6
Ich stelle mir selbst die Frage, die ich an die anderen ver-
schickt habe, und merke, dass ich sie nicht beantworten kann,
nicht schlüssig, vielleicht ansatzweise, nur in persönliche
Geschichten verpackt, in keinem Fall allgemein gültig. Ein paar
Geschichten fallen mir wieder ein. Wir sind ja ständig
Grenzgänger in allem, was wir tun. Was sollen also
Kategorisierungen? So Floskeln wie „Behinderung beginnt im
Kopf” beginnen in eben diesem zu kreisen. Ich komme zu dem
Schluss: Ich bin behindert wie andere auch. Nur fällt es bei
mir im Alltag nicht sonderlich auf!
Mit dieser Erkenntnis gesegnet komme ich auf die existentielle
Frage nach Gesundheit und Krankheit – auch wenn das mit
Behinderung unmittelbar nichts zu tun hat - und ich erinnere
mich an meine jugendliche Erschütterung nach der Erkenntnis,
dass wir von Geburt an beginnen zu sterben, dass Gesundheit
nur die Abwesenheit von Krankheit ist – so es das überhaupt
gibt. Ich fühle mich auf einmal kotzelend.
7
„Behindert ist ein Mensch, wenn er auf fremde Hilfe angewie-
sen ist!“ Endlich lese ich diesen Satz in meiner Mailbox von
einem Menschen, den ich sehr schätze und der sich auch für
krebskranke Kinder engagiert. „Deine Frage hat mich natürlich
schon beschäftigt. Die kleinen Patienten in der Universitäts-
Kinderklinik sind krank, aber nicht behindert. Meine über
90jährige Mutter kann nur noch sehr schwer gehen, sitzt die
meiste Zeit in ihrem Fernsehsessel, lebt alleine in ihrer großen
Wohnung. Sie hat einen unglaublichen Lebenswillen, lebt mit
ständigen Schmerzen, lässt sich aber nicht unterkriegen!
Behindert ist ein Mensch, wenn er auf fremde Hilfe angewie-
sen ist, zum Beispiel durch Amputation von Armen oder
Beinen. Eine Behinderung haben wir in jedem Fall auch bei
Menschen, die geistig nicht ‚mehr da sind‘, also auch perma-
nente Hilfe benötigen. Dazu kommen all die Krankheiten wie
Demenz u.ä. Diese Menschen brauchen jedoch die Hilfe nicht
wegen ihrer Krankheit - denn ich sehr hier keine Behinderung -,
sondern mehr persönliche Zuwendung und viel Liebe. „ Und er
schreibt noch eine sehr schöne Geschichte, die mich sehr
anrührt: „Ich selbst hatte in meinen Kindheitsjahren einen lie-
ben, aber taubstummen Freund. Seine Mutter war arm, hat ihn
jedoch mit Taschengeld so versorgt, dass er sich die
Freundschaft anderer Kinder ‚erkaufen konnte‘. Hier habe ich
eingegriffen und mich mit diesem Jungen sehr angefreundet
und ihm geholfen in die ‚Gruppe‘ aufgenommen zu werden,
ohne finanzielle ‚Hilfsmittel‘. War jetzt dieser Junge behindert?“
Warum kommt mir diese Geschichte so bekannt vor? Ich weiß:
erst unlängst erzählte man mir von einem jungen Erwachsenen,
der sich mit ähnlichen Mechanismen seinen Freundeskreis
schafft. Nur geht es heute nicht mehr um Geld, sondern um
MP3 -Player und dergleichen Statussymbole. Wer ist da nun
behindert?
8
Sonst schweigt übrigens mein Email noch immer.
Inzwischen ein durchaus angenehmer Zustand. Ich habe mich
damit abgefunden, dass ich eine falsche Frage gestellt habe.
Sowas tut man nicht, oder? Diese Gesund/Krank -Definition
hängt mir emotionell noch immer nach. Ich gehe zum Arzt
wegen meines Rückens. Röntgen. Nein, es ist alles in
Ordnung. Bandscheiben O.K., Wirbelsäule O.K.. Ich werde
in absehbarer Zeit noch aufrecht gehen können. Ich gehe ins
Training und versuche, dem natürlichen Körperverfall etwas ent-
gegen zu setzen. Ich will nicht von fremder Hilfe und
Unterstützung abhängig sein. Solange wir in einer vorgegebe-
nen Norm funktionieren, ist alles in Ordnung.
9
Ich erinnere mich an meinen ersten hautnahen Kontakt mit
behinderten Menschen, nämlich mit taubblinden Menschen.
Also Menschen, die nicht hören und nicht sehen können, und
die ihr Umfeld nur über Ertasten im wahrsten Sinn des Wortes
begreifen können. Diese Begegnung hat mich schlaflose
Nächte gekostet, vor allem weil ich mit diesen Menschen nicht
kommunizieren konnte, weil ich ihre „Sprache“ nicht gespro-
chen habe, weil ich mir so ein Leben nicht vorstellen konnte
und bis heute nicht kann! Behinderung hat keinen Platz im
schnellen Alltag.
10
Aus Budapest erreicht mich eine Mitteilung: „Mein Lieber, wir
hatten eine geistig und körperlich behinderte Verwandte, die
wir jahrelang gepflegt haben. Die hat gewusst, wo ihre
Grenzen sind. Wir wissen das nicht. Das ist behindert!“ Ich
bin fassungslos fasziniert.
Mir Rechtshänder gibt unlängst ein Einarmiger seine linke
Hand zur Begrüßung – noch dazu saß er im Rollstuhl! Ich war
kurz irritiert und habe nach einer ‚Schrecksekunde‘ dann auch
meine Linke angeboten. Wir lassen uns so leicht aus unseren
Routinen werfen.
Die Behinderung beginnt dort, meint eine sehr liebe Wiener
1...,35,36,37,38,39,40,41,42,43,44 46,47,48,49,50,51,52,53,54,55,...87