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Mit einem Schlag habe ich mir alle Sympathien in meinem
Freundes- und Bekanntenkreis verdorben. Man spricht nicht
mehr mit mir, kein Mail, kein Telefon. Ich bin fassungslos.
Dabei hat alles so harmlos angefangen.
Ich habe an rund 50 Menschen, die zumindest in einer
bekanntschaftlichen Beziehung zu mir stehen, folgendes Mail
geschrieben: „Liebe Freunde! Ich arbeite derzeit an einem sehr
schönen Projekt: eine befreundete Behindertenorganisation, die
sich um Menschen mit Behinderungen im Wohnbereich küm-
mert, feiert nächstes Jahr ihr 10jähriges Bestandsjubiläum. Zu
diesem Anlass gibt es ein entsprechendes Buch. Und dieses
Buch möchte ich übergreifend zu den einzelnen Themen ergän-
zen um einen Essay, basierend auf Euren Antworten zur Frage:
WAS IST BEHINDERT? Ich freue mich über ausführliche und
lange Antworten ebenso wie über kurze Statements. In jedem
Fall wäre ich für Eure Mitarbeit sehr dankbar. Der Sommer
scheint ohnehin verregnet. Ich erwarte gerne Eure Statements
und Erzählungen…“ Dann folgte ein kurzer Hinweis auf die
Deadline, bis zu der ich diese Statements erwartete. Es war
genug Zeit.
Dann habe ich einmal gewartet und gewartet und ziemlich
lange weiter gewartet. So beharrlich hat mein Emailkonto
schon lange nicht mehr geschwiegen wie zu dieser Zeit. Kein
Mail. Kein Spam. Nichts. Auch mein Telefon war still wie
schon lange nicht mehr. Ich hatte eine friedliche Zeit und das
beunruhigte mich. Hatte ich beim Versand falsche Adressen
eingegeben? Hatte ich womöglich die Emails gar nicht weg-
geschickt? Doch meine elektronischen Gefährten sagten mir:
alles versendet, alles verschickt!
Eines Tages wartete ein Mail aus dem hohen Norden in mei-
nem Posteingang auf mich: „Hallo Walter, Dein Email hat mich
daran erinnert, dass ich Dir schon lange einmal schreiben woll-
te…“ und dann folgte irgendein Palaver, kein Anhang, kein
Statement, kein Wort zu meiner Anfrage.
Nach einer weiteren beträchtlichen Weile beginne ich lang-
sam zu verzweifeln. Doch dann die erste präzise „Antwort” auf
meine Frage: „Wir planen eine kleine Hotelanlage auf den
Malediven zu bauen und fragen mal rundum, was Ihr Euch
von einer derartigen Anlage wünschen würdet?“ Hat da
jemand meine Idee kopiert und missbraucht das für seine bau-
lichen Vorhaben? Nun gut, es gibt kein Copyright auf private
Umfragen via Email. Ich habe noch immer keine tauglichen
Antworten.
2
Ich fahre U -Bahn und sitze vis -a -vis einer Frau mittleren Alters,
die fasziniert auf ihr Mobiltelefon schaut. Nachdem sie ein
paar Tasten gedrückt hat, spricht sie leise mit dem Display.
Nein, sie telefoniert nicht und hat keine Stöpsel zum
Telefonieren in den Ohren. Sie drückt wieder ein paar Tasten,
spricht wieder, bis sie meinen neugierigen Blick sieht. Sie senkt
den Blick und steckt das Telefon weg. Dann grinst sie. Leicht
debil? Wie komme ich nur dazu, so etwas zu denken.
Obwohl…!? Wie nehme ich Behinderung wahr? Die Grenzen
verschwimmen im Alltag sehr schnell.
In Selbstgespräche versunkene Menschen tasten sich den Weg
entlang und ziehen den säuerlichen Duft der Armut hinter sich
her. Die U -Bahn ist ein Ort der verlorenen Seelen oder besser
gesagt ein paar zentrale U -Bahnstationen sind solche Orte.
Wer sich schlecht fühlt, muss sich in diversen Stationen aufhal-
ten und das Elend dort beobachten. „Hearst wüst a Substi…?“
Menschen zwischen Sein und Schein … Menschen, nicht mehr
am Leben, aber noch nicht tot … behindert … eingeschränkt
… verlassen … hilflos …
3
Es wird genau nachgefragt, wie ich denn meine emailmäßige
Frage denn nun meine: körperliche oder geistige Behinderung
oder? Ich verweigere die Antwort. Ich will, dass jeder auf
diese Frage so reagiert, wie er eben reagiert. Ich will nichts
vorgeben.
4
Mein Eldorado des Wochenendeinkaufs ist der Naschmarkt:
die vielen Düfte, die vielen Gerüche, der
fremdsprachige Lärm, die vielen Varianten der österreichischen
Sprache begleiten diesen Einkauf und diesen Zustand genieße
ich, weil es für einen flüchtigen Augenblick lang den Eindruck
vermittelt, sich in einer toleranten Umgebung zu bewegen.
Während ich stehenderweise die verlockend bunten
Gemüseangebote eines Standes goutiere, spricht mich von der
Seite ein unscheinbarer junger Mann an und fordert ziemlich
unwirsch und ohne weitere Erklärungen einen Euro von mir,
den ich ihm verweigere. Darauf beginnt eine ziemlich laute
Beschimpfung dieses Bittstellers, dass ich das Leben nicht ver-
stehen würde und was mir denn einfallen würde, ihm den
einen Euro zu verweigern, das sei eine Frechheit und dieser –
nämlich mein - Euro würde ihm zustehen. Er zitiert aufs
Unflätigste noch Wiener Popgranden. Ich bin fassungslos wie
Was ist behindert – 12 Assoziationen
Walter Hiller
Öffentlichkeitsarbeit
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