Jahresbericht 2013 - page 48

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Dieses Beispiel zeigt, dass von Fall zu Fall die Dosierung und die Menge der Me-
dikamente einer genauen Überprüfung durch die ÄrztInnen bedürfen. Spätestens
dann, wenn sich eine Verschlechterung des Gesamtzustandes beobachten lässt.
Den Betreuungspersonen kommt dabei eine große Bedeutung zu. Die Betreuungs-
personen der WG Karree St.Marx nehmen diese Aufgabe sehr ernst.
Soziales Wohlbefinden
In der WG Karree St. Marx leben zwei Gruppen von BewohnerInnen zusammen.
Die eine Gruppe hat sich von der Kindheit, über die Jugend bis ins Erwachsenenal-
ter mit dem bis in die jüngste Vergangenheit üblichen „Institutionalisierungs- und
Segregationsmodell“ abfinden müssen. Die andere Gruppe ist in der Familie auf-
gewachsen und im Erwachsenenalter in eine gemeinwesenorientierte Wohnge-
meinschaft eingezogen.
Auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird im Betreuungskonzept von Auf-
takt großer Wert gelegt. Im Betreuungsalltag wird so gut wie möglich versucht das
soziale Wohlbefinden zu fördern und einen hohen Normalisierungsgrad der Be-
wohnerInnen anzustreben. Ein wichtiger Punkt dabei ist dafür zu sorgen, dass die
BewohnerInnen trotz Einschränkungen weitgehend selbstbestimmt und konflikt-
frei miteinander leben können. Das folgende Beispiel aus dem aktuellen Protokoll
vermag dies zu verdeutlichen:
„Ich komme in die WG und treffe im Vorraum Frau B., die bereits mit Jacke und
Schuhen sowie einer Zahnbürste in ihrer Hand fertig zum Ausgang ist. Mir wird
von der Betreuerin mitgeteilt, dass die Dame, die den Besuchsdienst macht, seit
einer Stunde überfällig ist. Spontan erkläre ich mich bereit, mit Frau B. eine Run-
de zu gehen. Kaum sind wir aus dem Haus, schnappt sie sich wie üblich einen
Zigarettenstummel und schiebt ihn in den Mund. Danach ist ihr Bedarf gedeckt,
dies lässt sich daran erkennen, dass sie sich bei mir einhakt und nicht mehr selbst-
ständig geht. Wir gehen in Richtung einer Einkaufsstraße mit breitem Gehsteig.
Kaum kommen wir an einem Lokal vorbei drängt sie mich hinein. Es handelt sich
um ein kleines Gasthaus mit Schank, hinter der uns der Wirt begrüßt, einigen
Automaten und zwei Gästen, die Zigaretten rauchend an einem Tisch sitzen und
Bier trinken. Auch wir setzen uns nieder und ich bestelle beim Wirt zwei Melange,
weil ich weiß, dass Frau B. gerne Kaffee trinkt. Mit einiger Unruhe wartet Frau B.
auf die Bestellung, als der Kaffee serviert wird, kann sie es nicht erwarten gleich
einen Schluck zu machen. Da der Kaffee aber sehr heiß ist, macht sie darauf-
hin zwischen den Schlucken notgedrungen längere Pausen. Nach dem Zahlen will
Frau B. noch eine Lokalrunde machen und nimmt dabei die Aschenbecher auf
den Tischen in Augenschein. Als sie zur Theke abbiegt und die Hand nach den
dort lagernden leeren Kaffeetassen ausstreckt gehe ich dazwischen und schiebe
sie Richtung Ausgang. Draußen angekommen nützt sie die erste Sitzgelegenheit
und setzt sich auf eine Gassenbank. Frau B. signalisiert mir dadurch, dass sie an
keinem weiteren Spaziergang mehr interessiert ist. Als ich daraufhin den Weg zur
WG einschlage, wird Frau B., je näher wir demWohnhaus kommen, immer schnel-
ler. Das heißt die Richtung stimmt. Im Vorraum entledigt sie sich ihrer Schuhe und
ihres Mantels und steigt mit mir an der Hand die Stiegen hinauf in den ersten
Stock, wo sich ihr Zimmer befindet.
Dort angekommen legt sie sich sofort ins Bett, um sich vom Spaziergang zu erho-
len. Das Angebot ein Bad zu nehmen, das ihr von der Betreuerin gemacht wird,
schlägt sie aus.
Als wir sie allein im Zimmer zurücklassen, erzählt die Betreuerin, dass sie heute
bereits ein Bad genommen hat. Weil sie sich nass gemacht hatte, ließ sie sich da-
rauf sofort ein.
Die Betreuerin weiß auch einiges aus dem Leben von Frau B. zu erzählen. So soll
sie zu Hause im Kinderbett mit ein paar Plüschtieren sich selbst überlassen wor-
den sein. Später ist sie auf den „Steinhof“ gekommen, wo ein von ÄrztInnen sehr
stark bestimmtes Betreuungssetting war und somit als „Patientin“ und nicht als
Mensch mit Beeinträchtigungen und besonderen Fähigkeiten gesehen wurde.“
Was auffällt: Frau B. wollte zwar früher ausgehen, musste aber länger als es ihr
lieb war im Vorraum der WG warten. Dann aber hat sie selbst bestimmt, was sie
tun und lassen will. Sie hat gleich nach dem Verlassen des Hauses einen Zigaret-
tenstummel geschluckt und sich später einen Kaffee organisiert. Nach dem Lo-
kalbesuch hat sie angezeigt, wieder nach Hause gehen zu wollen, wo sie sich mit
ihrer Zahnbürste in der Hand ins Bett gelegt hat. Vor dem Ausgang hat sie ein Bad
genommen und das zweite Angebot ein weiteres Bad zu nehmen abgelehnt.
Einmal musste ich ihren Versuch nach Kaffeetassen zu greifen vereiteln und sie
aus dem Lokal drängen. Dieses Eingreifen wirkte sich nicht sichtbar nachteilig auf
ihre Zufriedenheit aus, sonst hätte sie mich nicht in der WG an der Hand gehalten
und in ihr Zimmer mitgenommen.
In Anbetracht der Tatsache, dass Frau B. kein Wort spricht, lebt sie ein weitgehend
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