Jahresbericht 2013 - page 46

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punkt, dass ein bestimmtes Maß an Tischmanieren nicht unterschritten werden
darf. Um die Würde beim Essen zu unterstützen, wurde beschlossen, diesen bei-
den Bewohnerinnen das Essen einzugeben. Die alte Leitung stellte sich auf den
Standpunkt im Sinne der Förderung der Selbstständigkeit das selbstständige Ein-
nehmen des Essens in jedem Fall zuzulassen.
Beide Philosophien haben etwas für sich. Die erste sagt: Wenn die Nachteile des
selbstständigen Essens für alle Beteiligten zu groß sind, ist Unterstützung bes-
ser. Die zweite räumt der Förderung der Selbstständigkeit erste Priorität ein und
nimmt schlechte Tischmanieren und eine Belästigung der anderen in Kauf.
Medikamenteneinnahme
Früher wurden die Medikamente ausschließlich im Dienstzimmer verabreicht,
diese Tradition wurde aufrecht erhalten. Das Ritual der Medikamenteneinnahme
im Dienstzimmer hat einiges für sich. So wird damit bewusst eine Trennung zwi-
schen dem Essen und der Medikamenteneinnahme gezogen und vor allem wird
eine bessere Kontrolle über diesen fehleranfälligen Bereich gewahrt. Eingeführt
wurde diese eher unübliche Art der Medikamenteneinnahme aus einem nachvoll-
ziehbaren Abgrenzungsgesichtspunkt. Der Standpunkt war, dass alles vermieden
werden sollte, um aus einer WG eine „Krankenstation“ zu machen.
Der Gesundheitszustand von Frau O. hat sich stabilisiert. Wie das gelungen ist,
zeigt der folgende Protokollausschnitt: „Frau O. hat immer wieder einmal einen
Zusatzbedarf an Medikamenten bekommen, jetzt schon lange nicht mehr. Die Lei-
terin der WG, die auch Nachtdienste absolviert, erzählt: ‚Frau O. ist damals, als ich
Dienst hatte, anstatt zu schlafen, vor das Dienstzimmer gekommen und hat laut
geschrien. Ich bin zu ihr und habe sie dazu gebracht in die Küche weiter zu gehen,
weil sie dort mit ihrem Lärmen die anderen Bewohner im Haus nicht stört. In der
Küche habe ich ihr gesagt, dass sie hier die ganze Nacht verbringen kann und ich
habe ihr angeboten Polster und Decke zu bringen, falls sie sich auf den Fußboden,
der ohnehin geheizt ist, legen will. Weil sie nichts wollte, habe ich die Tür hinter
mir zugemacht und bin ins Dienstzimmer gegangen. Ich konnte natürlich nicht
schlafen, sondern habe mir geschlagene zwei Stunden lang ihr Schreien angehört
und gehofft, dass sie endlich eine Ruhe findet. Nach zwei Stunden habe ich ge-
hört wie die Türe aufgegangen ist. Frau O. ist in ihr Zimmer gegangen, hat sich ins
Bett gelegt und hat normal geschlafen. Seither haben wir ihr keinen Bedarf mehr
geben müssen.‘“
Dies ist ein gelungenes Beispiel eines Betreuungserfolges, der sich einstellt, wenn
sich eine Betreuungsperson ihnen gegenüber nicht so verhält, wie BewohnerIn-
nen es üblicherweise erwarten.
Da sich das gewohnte Verhaltensmuster, das Frau O. sich auf Grund ihres langjäh-
rigen Aufenthaltes in der stationären Einrichtung Otto Wagner Spital angeeignet
hat, nicht mehr bewährte, gelang ihr eine Stabilisierung ihres psychischen Zu-
standes auf einem höheren Niveau. Sie hat ein altes Verhaltensmuster abgelegt,
braucht keinen Bedarf mehr und hat somit einen großen Schritt nach vorne ge-
macht. Grundlage des Erfolges ist die Verfolgung einer bewussten Strategie und
das Aushalten-Können bestimmter oft sehr unangenehmer Situationen.
Ein ähnlicher Erfolg gelang einer Betreuungsperson bereits während des ersten
Besuches bei Frau P. Damals wurde die Betreuerin mitten in der Nacht von einem
lauten Poltern geweckt, das aus dem Zimmer von Frau P. gekommen ist. Als sie
Nachschau hielt, war Frau P. ganz außer sich und schlug in einem grausamen Akt
von Autoaggression ihren Kopf gegen die Wand. Grund ihrer Unzufriedenheit war,
dass sie den Stein, den sie immer in der Hand halten muss, verloren hat.
Trotz intensiver Suche konnte die Betreuerin den Stein nirgends finden. In ihrer
Not ließ sie die verzweifelte Frau P. kurz allein, lief vor das Haus, suchte einen
Stein und drückte ihn ihr in die Hand. Darauf war Frau P. sofort beruhigt, sie legte
sich wieder ins Bett und es war Ruhe. Mit einem Bedarf, den ihr die Betreuerin
in dieser Situation geben hätte können, hätte dieses Problem kurzfristig ebenfalls
gelöst werden können.
Weil Herr K. mit seinem geänderten Verhalten den Betreuungspersonen einiges
Kopfzerbrechen bereitet hat, wurde mit dem Facharzt gemeinsam beschlossen,
ein stark wirkendes Sedierungsmedikament abzusetzen. Schon vor eineinhalb
Jahren haben die Betreuungspersonen beobachtet, dass Herr K. keine Laute mehr
von sich gab, oft starr auf seine Fingerspitzen schaute und dabei die Umwelt kaum
noch wahrnahm. Er verharrte lange in einer Position und die BetreuerInnen regis-
trierten einen erhöhten Pulsschlag.
Als das Medikament abgesetzt wurde, haben viele das Schlimmste befürchtet,
doch die Ängste waren umsonst, seither geht es Herrn K. besser. Sein Erstarren
begleitet mit Herzrhythmusstörungen findet nicht mehr statt und auch sonst ist es
zu keiner auffälligen Verhaltensveränderung gekommen.
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