Jahresbericht 2013 - page 52

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einmal beobachte ich, dass er seinen Finger in den Kaffee seiner Sitznachbarin
tunkte und ihn sofort abschleckte, früher hätte er die ganze Schale genommen
und ausgetrunken.
Selbst Herr W., der meist heiter und zufrieden ist, hat sich anfangs, als er hier
eingezogen ist, ebenfalls gerne vom Essen der MitbewohnerInnen bedient. Heute
lässt sich dieses Verhalten nicht mehr beobachten.
Aktivitätsbezogenes Wohlbefinden
Bei der Beobachtung des aktivitätsbezogenen Wohlbefindens bieten sich vor al-
lem zwei Fragestellungen an. Wird die Autonomie der BewohnerInnen ausrei-
chend gefördert und wird im Sinne der Normalisierung versucht ihren Alltag dem-
entsprechend zu organisieren?
Förderung der Autonomie
Anfangs wird die Szene geschildert, in der Frau O. ihre Schuhe selbst ausziehen
soll, was ihr aber nicht recht gelingen will. In diesem Fall reagierte ich falsch, weil
ich im Gegensatz zur Betreuerin nicht länger zusehen konnte, wie Frau O. verzwei-
felt versuchte auch ihren zweiten Schuh vom Fuß zu bringen. Die Betreuerin konn-
te diese Situation gut aushalten, weil sie ein paar Türen weiter mit der Wäsche
beschäftigt war, die sie aus dem Trockner holte und zusammenlegte.
Drei Jahre später bietet sich mir ein ähnliches Bild. Wieder sehe ich, dass viele Be-
treuerInnen den kompletten Wäschdienst für die BewohnerInnen übernehmen,
ähnliches zeigt sich beim Einkaufen und Kochen. Es gibt keine systematische Ein-
beziehung der BewohnerInnen in die üblichen Alltagsbeschäftigungen, auf die-
sem Gebiet findet kaum eine Förderung der Selbstständigkeit statt. Diese Aussa-
gen lassen sich mit folgenden Beispielen belegen:
Herr S. ist wie schon vor drei Jahren gerne dabei, wenn er eine Betreuungsperson
beim Einkauf begleiten darf. Seine erstarrte Mimik zeigt zwar nicht an, ob ihm
diese Möglichkeit, an einer Alltagsbeschäftigung teilzunehmen, Freude bereitet,
aber da er diesen Aufforderungen meist nachkommt, ist davon auszugehen, dass
ihm das Einkaufen im nahen Supermarkt gefällt. Die Förderung der Selbstständig-
keit findet ansonsten weder durch Assistenzleistungen beim Kochen noch durch
eine aktive Einbeziehung bei der Wäsche statt.
Frau F. hält sich mehr als früher in ihrem Zimmer auf und hört Musik. Sich allein
beschäftigen zu können, ist ein großer Fortschritt. Anfangs hielt sich Frau F. mit
ihrer CD in der Hand fast ausschließlich in den allgemeinen Räumen der WG auf.
Vom Wäsche- und vom Kochdienst ist sie allerdings weitgehend befreit. Die aktive
konsequente Einbeziehung von Frau F. in diese wichtigen Haushaltsarbeiten muss
erst in Angriff genommen werden.
Der Mangel an aktiver Einbeziehung in die täglichen Routinearbeiten trifft in der
WG Karree St. Marx auf fast alle BewohnerInnen außer auf die beiden Bewoh-
nerinnen in den Trainingswohnungen zu, deren Autonomie gut unterstützt und
gefördert wird. So bereitet Frau A. ihr Frühstück inzwischen selbst zu und Frau
M. ist häufig beim Kochen dabei. Die übrigen BewohnerInnen werden hingegen
im Zusammenhang mit der Förderung der Selbstständigkeit zu wenig unterstützt.
So können sie zum Beispiel nicht mitbestimmen, welches Essen sie gerne hät-
ten, da ihnen nicht die Möglichkeit gegeben wird, sich über Fotos ein Essen ih-
rer Wahl auszusuchen. Daher finden auch das Einkaufen und Kochen nicht selten
ohne aktive Einbeziehung der BewohnerInnen statt. Diese geringe Beteiligung der
BewohnerInnen an den alltäglichen Haushaltsaufgaben führt dazu, dass einige
Betreuungspersonen das Gefühl haben, ständig für das Wohl der BewohnerInnen
im Einsatz zu stehen. Es gibt den von ihnen geäußerten Wunsch, dass die Bewoh-
nerInnen sich mehr selbst beschäftigen sollen, damit die BetreuerInnen nicht das
Gefühl haben, ständig für sie laufen zu müssen. Gleichzeitig werden die Bewoh-
nerInnen aber kaum in die alltäglichen Routinearbeiten einbezogen. Durch das
konsequente Absperren der Nassräume sind die BetreuerInnen automatisch mehr
gefordert als in anderen WGs, wo die BewohnerInnen nicht wegen jeden Gang auf
die Toilette eine Betreuungsperson um Hilfe bitten müssen.
Der große Servicecharakter zeigt sich auch während der alltäglichen Betreuungs-
arbeit. So wird Frau E. in der Badewanne gebadet und muss dabei beaufsichtigt
werden, früher wurde für sie ein Kinderplanschbecken vorbereitet, in dem sie sich
auch allein aufhalten konnte. Auch bei der Neuerung, zwei Bewohnerinnen das
Essen einzugeben, kommt dieser Servicecharakter zum Ausdruck. Selbst das Ab-
räumen des Geschirrs bleibt den Betreuungspersonen.
Dass es keine konsequente Einbeziehung der BewohnerInnen beim Kochen gibt,
ist besonders schade. Das Interesse am Kochen ist jedenfalls groß. So versammeln
sich nach wie vor einige BewohnerInnen außerhalb der Absperrung zum Küchen-
block und schauen den Betreuungspersonen beim Kochen zu. Als es noch keine
Absperrung gegeben hat, drängten sich die BewohnerInnen unmittelbar um den
Herd, was das Kochen zu einer schwierigen und auch gefährlichen Aufgabe mach-
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