Jahresbericht 2013 - page 38

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Der erste Besuch 2010
„Zunächst treffe ich Frau O. im Vorraum der WG an. Es ist eine junge Frau chinesi-
scher Herkunft. Sie kehrt als erste Bewohnerin aus ihrer Tagesstruktur in die WG
zurück und ist gerade dabei die Schuhe auszuziehen. Ich stelle mich ihr und der
Betreuerin, die ihr beim Ausziehen zusieht, vor. Mit der Aussage: „Ein schöner
Mann“, hat Frau O. sofort meine ganze Sympathie gewonnen.
Während die Bewohnerin noch länger mit dem Schuheausziehen beschäftigt ist,
sortiert die Betreuerin im Nebenraum getrocknete Wäsche. Damit beim Wäsche-
waschen nichts durcheinanderkommt, wird in dieser WG die Wäsche der einzel-
nen BewohnerInnen extra gewaschen. Zusätzlich wurden für die BewohnerInnen
verschieden färbige Handtücher und Bettüberzüge besorgt, sodass es auch dabei
zu keinen Verwechslungen kommen kann.
Trotz zahlreicher Versuche die Schuhe auszuziehen, schafft Frau O. nur einen Fuß
frei zu bekommen. Weil sie sich über diese mühsame Beschäftigung schon ärgert,
helfe ich ihr ein wenig beim Ausziehen des zweiten Schuhs. Der nächste Weg führt
in die Küche, wo bereits eine kleine Jause aus belegten Broten mit Wurst und
gefüllte Schalen mit Apfelspalten sowie mehrere Joghurt auf die BewohnerInnen
warten.
In der Küche treffe ich die zweite Betreuerin an, die heute erstmals Dienst macht
und sich im Detail noch nicht so genau auskennt, wie sie mir gleich erzählt. Frau O.
kann aus dem vorbereiteten Buffet wählen. Sie nimmt ein auf einem Teller liegen-
des belegtes Brot und einen Becher Saft, setzt sich zum Tisch und beginnt langsam
zu essen, wobei sie ihren Kopf ungewöhnlich knapp über den Teller beugt. Nach
dem Essen kommt sie zu mir, reicht mir ihre Hand und drückt sich an mich. Später
hilft sie der dritten Betreuerin, die gegen 16.00 Uhr ihren Dienst antritt, beim Ko-
chen. Sie schneidet ein paar rote Paprika in Streifen. Die Betreuerin kocht heute
„Erdäpfelrösti mit Salat und Gemüse“.
Wieder einige Zeit später stürmt eine junge Frau in die Küche und bietet ihre Mit-
arbeit beim Kochen an. Es handelt sich um Frau D. Sie zerkleinert die Erdäpfel, die
ihr die Betreuerin nach dem Abschälen in die Pfanne legt. Zuvor war Frau D. schon
mit beim Einkaufen.
Die junge Frau redet sehr laut und freut sich hier zu wohnen. Nach der Arbeit
zeigt sie mir stolz ihre im ersten Stock liegende Wohnung. Sie besteht aus einem
großen Wohnschlafraum mit Balkon. Besonders stolz ist Frau D. auf den kleinen
Kühlschrank und den Herd, den sie aber nur selten benützt. Ihr steht ein eigenes
Bad mit Dusche zur Verfügung. Die Waschmaschine teilt sie mit ihrer Wohnungs-
nachbarin. Frau D. will mir auch ihren Balkon zeigen, doch muss sie feststellen,
dass die Balkontür abgesperrt ist, was sie einigermaßen erstaunt.
Die etwas über 18-Jährige spricht davon sich heute mit ihrer Freundin gestritten
zu haben und sie klagt darüber, dass sie mit den Männern in der WG leider nicht
reden kann. Ich komme ihr heute wie gerufen, ständig ist sie hinter mir her und
nach dem Abendessen will sie mit mir in der Wohnküche zur Radiomusik sogar
tanzen. Ich drehe mit ihr einige Runden, was ihr sehr gefällt. Allerdings wird ihr
bald schwindlig, sodass wir Pausen einlegen müssen. Kaum fühlt sie sich wieder
fit, drehen wir eine weitere Runde.
Frau D. erzählt, dass sie erstmals in einer WG wohnt. Zuvor war sie daheim bei
ihrer Mutter und deren Freund. Weder von der Mutter noch vom Stiefvater fühlte
sie sich gut behandelt, ja sie spricht sogar davon geschlagen worden zu sein. Einen
Vom Leuchten in den Augen
Die Einrichtung „Karree St. Marx“ ist die jüngste Wohngemeinschaft von Auftakt. 2009 ist sie in Betrieb gegangen als Teil der Aus-
gliederung von ehemaligen PatientInnen aus dem Förderpflegeheim/Pav. 17 aus dem Otto Wagner Spital (OWS). Neun Menschen
finden hier Platz, angeschlossen sind zwei Kleinwohnungen für selbständigere BewohnerInnen. Gelingt die Ausgliederung von Men-
schen, die in einem Spital gelebt haben, in eine gemeinwesenintegrierte Einrichtung? Dieser Frage ist Dr. Konrad Hofer im speziellen
in dieser Einrichtung nachgegangen.
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