Jahresbericht 2013 - page 53

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te. Dass jetzt die BetreuerInnen oft völlig allein kochen und nur die selbstständi-
gen BewohnerInnen zum Herd lassen, ist eine große Kehrtwendung im Vergleich
zu früher. So liebte es etwa Herr W., wenn er direkt in das Backrohr schauen und
die Veränderung des Essens beobachten konnte. Dabei verhielt er sich ähnlich
wie vor dem Fernseher, dem er ebenfalls ganz nahe rückt und interessiert den
Bewegungen folgt.
Bei näherem Hinsehen beschäftigen sich viele BewohnerInnen mehr als früher
allein. Frau O. hält sich oft stundenlang in ihrem Zimmer auf und schaut sich chi-
nesisch sprachige DVDs an. Vor drei Jahren war Frau O. fast durchwegs in der
Wohnküche anzutreffen. Frau P., ihre Nachbarin von gegenüber, schaukelt oft lan-
ge Zeit in ihrer Hängematte oder sie setzt sich im Gang auf den Boden und lässt
ansonsten nichts von sich hören.
Herr K., der noch vor eineinhalb Jahren einen sehr starken Drang hatte, rauszu-
gehen und dabei ständig auf der Suche nach BegleiterInnen war, äußert diesen
Wunsch nicht mehr. Er geht zwar nach wie vor zwischen Zimmer und Wohnküche
hin und her, macht aber öfters Pausen und setzt sich auf die Couch in der Wohn-
küche oder hält sich länger in seinem Zimmer auf. Sein Summen ist leiser gewor-
den und oft ist es gar nicht zu hören.
Herr B. ist nach wie vor ein sehr zurückhaltender, freundlicher Zeitgenosse. Ger-
ne begleitet er BetreuerInnen bei ihren verschiedenen Tätigkeiten ohne dabei zu
stören. Frau E. probiert zwar ständig, ob ein Nassraum offen steht, aber auch sie
hält sich mehr als das früher der Fall war im eigenen Zimmer auf, sie setzt sich in
der Wohnküche auf den Heizkörper und es gibt im Gegensatz zu früher Tage, wo
sie kaum negativ in Erscheinung tritt.
Herr W. dreht sich weiterhin gerne auf einem Drehsessel. Er setzt sich ebenfalls
oft unweit von Frau P. im Gang auf den Boden und erfreut sich am bewegungsab-
hängigen Lichtmelder.
Herr S. hält sich häufiger als früher vor allem im ersten Stock auf. Frau B. ist zufrie-
den, wenn sie einen Kaffee trinken und etwas in ihren Händen halten kann, will
aber regelmäßig ausgehen, um ihr tägliches Quantum Tabak zu bekommen.
Insgesamt sind die BewohnerInnen ruhiger geworden.
Wege zur Normalisierung
Die Übersiedlung der BewohnerInnen aus dem OWS in eine WG ist ein wichtiger
Schritt Richtung Normalisierung. Am „Steinhof“ lebten die BewohnerInnen zwar
in einer verkehrsberuhigten Grünlage, aber das „Institutionalisierungs- und Se-
gregationsmodell“ ist überholt und mit dem Normalisierungsprinzip nicht kom-
patibel.
Die WG „Karree St. Marx“ ist eingebettet in ein neu erschlossenes Wohngebiet auf
den ehemaligen Gründen des In- und Auslandschlachthofes „St. Marx“ mit vielen
neuen Wohnbauten. Wie fast alle anderen BewohnerInnen im berufstätigen Alter
verlassen die Menschen mit Behinderung die WG von Montag bis Freitag am Mor-
gen, werden in die Tagesstrukturen gefahren oder suchen diese selbstständig auf
und kehren am späteren Nachmittag wieder in die WG zurück.
Das regelmäßige Einkaufen funktioniert zwar nicht so, wie es das Normalisie-
rungsprinzip einfordert, aber die BewohnerInnen kennen ihre Wohnumgebung,
sie wissen, wo es einen Kaffee für sie oder etwas zu kaufen gibt. Sie wohnen in
bequemen Einzelzimmern und schätzen zunehmend die damit verbundene Rück-
zugsmöglichkeit.
Früher wurde die notwendige Nagelpflege in der WG erledigt, was dem Normali-
sierungs-prinzip widerspricht. Heute sind alle Fußpflege- und Friseurtermine nach
außen verlegt.
Mit den Einzelbetreuungseinheiten und Besuchsdiensten ist es möglich individu-
elle Vorlieben der BewohnerInnen abzudecken. So weiß Herr K., dass er zwei Mal
die Woche die Möglichkeit hat mit seinem Einzelbetreuer auszugehen, womit sein
Bedarf an Spaziergängen, wie sein Verhalten zeigt, gedeckt zu sein scheint.
Herr S. geht zwei Mal im Monat ins Kino und ebenso oft besucht er die Therme.
Diese Aktivitäten entsprechen dem Normalisierungsprinzip und der Inklusion.
Die Anpassung ihres Lebens an den gewöhnlichen Alltag der Mehrheitsbevölke-
rung und die Nutzung der Infrastruktur machen den Unterschied zwischen dem
Leben am „Steinhof“ und einer WG im Sinne des „Deinstitutionalisierungs- und
Entwicklungsmodells“ aus.
Materielles Wohlbefinden
Die wichtigste Frage im Zusammenhang mit dem materiellen Wohlbefinden ist,
ob sich der Lebensstandard derjenigen BewohnerInnen, die vom OWS in die WG
übersiedelt sind, verbessert oder verschlechtert hat.
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