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selbstbestimmtes Leben. Sie weiß ihren Anliegen und Bedürfnissen auch ohne
Worte Ausdruck zu verleihen.
An ihrem Verhalten lässt sich neben ihrem weitgehend selbstbestimmten Lebens-
stil auch ein hoher Normalisierungsgrad festmachen. Das von ihr aufgesuchte Lo-
kal, das der WG am nächsten liegt, hat sie schon öfter besucht. Der Wirt kennt sie.
Frau B. ist bei der schrittweisen Besiedelung der WG als letzte Bewohnerin aus
dem OWS eingezogen. Damals gab es große Bedenken unter den Betreuungsper-
sonen, ob es ihnen gelingen wird, mit dieser als besonders „schwierig“ geltenden
Dame ein gutes Auskommen zu finden. Außer einem ausgeprägten Bedürfnis nach
Kaffee, den sie anfangs vehement einforderte und ihrer Angewohnheit mal etwas
über den Balkon zu werfen, gab es jedoch von Beginn an keine außergewöhnli-
chen Probleme. Mittlerweile weiß Frau B., dass ihr Bedarf an Kaffee in der WG
gedeckt wird und auch beim Spaziergang reicht ihr inzwischen meist eine einzige
Zigarettenkippe. Frau B. ist ruhiger geworden, ihre Mimik ist zwar weiterhin ver-
steinert, sie steht aber weniger unter Spannung, weil sie ihre Vorstellung, wie sie
leben möchte, weitgehend durchsetzen kann.
Grenzen setzen
Frau B. hat, wie die meisten anderen BewohnerInnen, gelernt Grenzen zu akzep-
tieren. So ist es zum Beispiel nicht möglich sie bei einem Spaziergang daran zu
hindern, einen Zigarettenstummel aufzuheben und in den Mund zu schieben, es
ist aber möglich, sie daran zu hindern eine zweite und eine dritte Zigarettenkip-
pe in den Mund zu nehmen. Es ist auch möglich und notwendig, ihr Grenzen im
Lokal zu setzen. So habe ich sie nach dem Konsum von zwei Kaffee aus dem Lokal
gedrängt, was sie akzeptiert hat. Einer Betreuerin, die mit ihr im selben Lokal war,
ist das nicht gelungen. So hat eine ältere Dame, die im Rahmen des Besuchsdiens-
tes mit Frau B. unterwegs war, es nicht geschafft, das Lokal ohne Probleme zu
verlassen. Frau B. hat sich gegen das Verlassen der Gaststätte so heftig zur Wehr
gesetzt, dass die Dame danach ihren Dienst kündigte.
Frau B. braucht demnach eine starke Betreuungsperson, die ihr Grenzen setzt, um
ein sozial verträgliches Verhalten zu gewährleisten.
Herr S. ist ruhiger geworden. So hat er es sich zum Beispiel abgewöhnt, sich nach
dem Essen an einen anderen bereits leeren Platz am Tisch zu setzen und sich die
Reste, die sich auf Tellern und am Tisch verstreut vorfinden, einzuverleiben. Er hat
erkannt, dass er in der WG genügend zu essen bekommt und nicht auf Essensab-
fälle angewiesen ist.
Auch beißt er sich kaum mehr wie früher in autoaggressiver Manier in seinen
rechten Handrücken.
Häufig pendelt er zwischen seinem Zimmer im ersten Stock und dem gegenüber-
liegenden WC hin und her. Da die Toilette abgesperrt ist, muss er mit lautem Klop-
fen anzeigen, dass jemand die Tür öffnen soll. Sitzt Herr S. dann auf dem WC will
er, dass die Türe offenbleibt. Diesen Moment nutzt wiederum Frau E., um ans Ziel
ihrer Wünsche zu gelangen.
Würde Frau E. nicht ständig auf Gelegenheiten warten, um unbeaufsichtigt in ei-
nen Nassraum zu gelangen, könnte es sich Herr S. ersparen, ständig laut an die
WC-Tür klopfen zu müssen. Auch andere BewohnerInnen sind in der WG einge-
schränkt, weil Frau E. wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer MitbewohnerIn-
nen nimmt. So muss Frau O. sich die meiste Zeit in ihrem Zimmer aufhalten, weil
sie nur dort vor Frau E. sicher ist, die ihr die Zeitschriften, die sie gerne durchblät-
tert, aus der Hand nimmt, in den Mund schiebt und zerreißt.
Interessant ist, dass bisher alle pädagogischen Versuche das Verhalten von Frau E.
in sozialere Bahnen zu lenken, an ihr abgeprallt sind. Der besondere Aspekt dabei
ist, dass Frau E. sich nicht im OWS aufgehalten, sondern direkt von zu Hause in die
WG übersiedelt ist.
Frau E. hat in ihrer Familie völlige Freiheit, sie kann dort tun und lassen, was sie
will. Da ihre engsten Bezugspersonen ihr keine Grenzen vorgeben, ist es für Be-
treuungspersonen fast unmöglich bestimmte Verhaltensregeln durchzusetzen. So
greift sie nach wie vor nach dem Essen ihrer MitbewohnerInnen, schnappt sich
deren gefüllte Becher und trinkt sie aus. Sie nimmt sogar Frau P. ihren „Stein“,
der inzwischen durch eine Kastanie ersetzt worden ist, aus der Hand, legt sich in
fremde Betten und bedient sich an den Gegenständen, die sie in den Zimmern der
MitbewohnerInnen vorfindet. Die WG ist für sie eine große Spielwiese, wo sie fast
immer etwas findet, das ihr Spaß macht.
Um ihren „Spieltrieb“ einzuschränken, wird in der WG alles weggeräumt, ihretwe-
gen schaut die WG ziemlich kahl aus. So gibt es keine Bilder an den Wänden und
es stehen auch nirgends Blumen oder Grünpflanzen oder sonstige Gegenstände,
die das Interesse von Frau E. erwecken könnten. Das Minimieren der Beschädi-