Jahresbericht 2013 - page 26

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keiten, etwa darum, neue CDs aus dem Zimmer zu holen. Die Musik spielt sie oft
so leise, dass diese kaum zu vernehmen ist, dennoch will sie eine CD nicht zweimal
hintereinander anhören. Obwohl sie ohne weiteres selbst in der Lage wäre, eine
neue CD zu suchen und einzulegen, beauftragt sie Herrn F., der ihrem Wunsch in
der Regel gerne nachkommt. Frau N. bezeichnet Herrn F. als ihren Freund. Dieser
Mann gibt jedoch an, mehrere Freundinnen zu haben.
Frau N. hat auch als einzige Bewohnerin der WG einen besonders innigen Kontakt
zu Frau R., die sich wiederholt zu Frau N. setzt und mit ihr kuschelt. Dabei kommt
es zu Umarmungen und Küssen, wobei die Initiative von Frau R. ausgeht. Frau N.
weiß sich in solchen Situationen oft nicht zu helfen, schaut ratlos in die Gegend,
wehrt diese Annäherungen aber auch nicht ab.
Diese Bewohnerin hat sich im Vergleich zu früher kaum verändert, nach wie vor ist
sie hilfsbereit, nach wie vor gibt sie vor krank zu sein, wenn MitbewohnerInnen es
auch sind und nach wie vor verliert sie ihre teuren Zahnprothesen. Dass sie jetzt
ab und zu auch alleine die WG verlässt, macht sie als Reaktion auf Herrn F. Wenn
ihr „Freund“ das alleine macht, dann schafft sie es auch, zusätzlich bekommt sie
dafür Anerkennung von den Betreuungspersonen.
BewohnerInnen mit familiären Beziehungen
Frau A. hat während meines aktuellen Aufenthaltes kein einziges Mal laut geschri-
en. Vor vier Jahren gehörte das Schreien hingegen zu ihrem fast alltäglichen Ver-
haltensrepertoire. Zwar berichten die Betreuungspersonen, dass sie nach wie vor
laut werden kann und dann in ihr Zimmer gehen muss, aber die Abstände sind
größer geworden. Frau A. stellt sich auch weniger in den Mittelpunkt als noch vor
vier Jahren.
Obwohl sich in der Zwischenzeit ein neues Betreuungsteam gebildet hat, scheint
die pädagogische Arbeit von damals fortgesetzt worden zu sein und Früchte zu
tragen. Frau A. stellte sich während meines Aufenthaltes kaum in den Mittelpunkt,
sie hat sich mit einem vernünftigen Maß an Zuwendung abgefunden.
Zusätzlich ist es gelungen, den eher störenden Einfluss der Familie zurückzudrän-
gen. So wird Frau A. nur mehr vierzehntägig abgeholt, um ein Wochenende zu
Hause zu verbringen. Auch darf ihre Mutter nicht mehr in Abwesenheit von Frau
A. in die WG kommen und ihr Zimmer aufräumen. Immer, wenn Frau A. von der
Tagesstruktur nach Hause gekommen ist und bemerkte, dass ihre Mutter das Zim-
mer gereinigt hat, wurde sie laut und es gab eine Krise. Frau A. hat der geringere
Kontakt zur Familie sichtlich gut getan. Gleichgeblieben ist, dass sich Frau A. nach
wie vor in die jungen Fahrer der Fahrtendienste verliebt. Die Namen haben sich
geändert, doch ihre besondere Freude, sie regelmäßig bei den Fahrten zu und von
der Arbeit zu treffen, ist nach wie vor sehr groß.
Zur besonderen Bedeutung der Beziehungsarbeit im Betreuungsalltag
Das emotionale Wohlbefinden hängt von mehreren Faktoren ab. Ganz wichtig da-
bei ist, inwieweit es den Betreuungspersonen gelingt, eine gute Beziehung zu den
BewohnerInnen aufzubauen. Ein besonders gelungenes Beispiel stellt dabei die
geradezu wunderbare Wandlung von Frau G. dar. Diese Dame, die in einer eige-
nen Wohnung oberhalb der WG lebt, traf ich vor vier Jahren mit einer Fülle von
Problemlagen an. Sie hatte Selbstmordgedanken, war oft unfähig aufzustehen,
um die notwendigsten Aufgaben zu erledigen, was folgender Protokollausschnitt
von 2009 dokumentiert: „Frau G. erzählt mir, dass sie gestern von halb sieben Uhr
bis halb neun Uhr abends geweint hat. Sie ist fünf Minuten vor halb sieben in die
WG gegangen, weil sie sich sehr schlecht gefühlt hat. Trotz zweimaligem Läuten
hat niemand aufgemacht und so ist sie niedergeschlagen in ihre Wohnung zurück-
gegangen. Sie hat dann ihren Bruder, der in Vorarlberg lebt, angerufen und ihm
gesagt, dass sie nicht mehr leben möchte.“
Vier Jahre später treffe ich Frau G. völlig verwandelt in bester Laune an. Sie ar-
beitet in einem von einem anderen Träger betriebenen Geschäft, in dem Second-
Hand-Kleidung verkauft wird und hat sogar um eine Erhöhung der Arbeitszeit an-
gesucht, damit sie mehr Geld verdient. Als ihr Bruder geschäftlich etwas in Wiener
Neustadt zu tun hatte, fuhr sie selbstständig mit dem Zug hin, um sich mit ihm zu
treffen. Danach setzte sie sich, ebenso selbstbewusst in den Zug und fuhr wieder
nach Hause zurück. Mit diesem gelungenen Ausflug hat sie alle BetreuerInnen
schwer beeindruckt.
Eine der wichtigsten Ursachen für diesen positiven Wandel ist, dass es einem Be-
treuer gelungen ist, zu dieser Frau eine gute Beziehung aufzubauen. Aufgrund ei-
nes Unfalles musste Frau G. ins Spital, wo sie sich länger aufhalten musste. Dieser
Betreuer sowie alle anderen Betreuer und Bewohner besuchten sie in dieser Zeit
regelmäßig und dabei gelang der Durchbruch. Frau G. ist seit dieser schwierigen
Zeit wie ausgewechselt. Allein ihre Körpersprache zeigt dies an. Hatte sie vor vier
Jahren ein leises Auftreten und einen schleppenden Gang, führt sie heute einen
guten Schmäh und schreitet schnellen Schrittes einher.
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