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Neu in der WG ist, dass die Küchentür fast immer offensteht. Die BewohnerInnen
haben die Möglichkeit, sich jederzeit einen Kaffee einzuschenken, oder, wenn die
Kanne leer ist, einen neuen aufzusetzen. Zusätzlich gibt es einen frei zugänglichen
Kühlschrank, in dem die Milch für den Kaffee gelagert wird. Die jeweiligen Vorrats-
behälter für die einzelnen BewohnerInnen waren während meines Aufenthaltes
noch leer, sollen aber in nächster Zeit mit der Nachmittagsjause der BewohnerIn-
nen gefüllt werden. Die Idee ist, dass sich alle BewohnerInnen selbst bedienen
sollen. Allerdings wird vermutet, dass Frau R. durchaus starkes Interesse haben
könnte, sich auch den Jausenvorrat ihrer MitbewohnerInnen einzuverleiben.
Auf demWohnzimmertisch steht den BewohnerInnen ein Obstteller zur freien Ent-
nahme zur Verfügung. Das Obst, meist handelt es sich dabei um Äpfel, ist in kleine
Stücke geschnitten, sodass die BewohnerInnen nur mehr zugreifen müssen. Auch
Krüge mit verdünntem Saftwasser und leere Becher stehen am Wohnzimmertisch
bereit. Dabei kommt es allerdings zu Verunreinigungen, da beim selbstständigen
Einschenken einiges danebengeht. Jedenfalls wird dieses Angebot angenommen,
vor allem Frau A. und Frau R. greifen immer wieder zu.
Die Öffnung der Küche und das Angebot an Obst und Fruchtsaft haben bewirkt,
dass die Küche ein normaler Teil der WG geworden ist. Vor vier Jahren musste
jede Betreuungsperson darauf achten, die Küche abzusperren. Damals gab es
noch keinen versperrten Kühlschrank und der große Kühlschrank hatte vor allem
für Frau R. und Herrn C. eine große Anziehungskraft.
Soziales Wohlbefinden
Insgesamt gehen die BewohnerInnen sehr freundlich und rücksichtsvoll miteinan-
der um. Während meines Aufenthaltes wurde ich nie Zeuge von großen Auseinan-
dersetzungen unter den BewohnerInnen. Wenn es Konflikte gibt, dann eher zwi-
schen Betreuungspersonen und BewohnerInnen. Diese Konflikte bleiben jedoch
derzeit auf eine Bewohnerin beschränkt, die neu in die WG eingezogen ist und
ihre soziale Position erst suchen muss.
Rücksicht nehmen
Eine wichtige Aufgabe der Betreuungspersonen ist es auf die einzelnen Vorlieben
der BewohnerInnen zu reagieren und ihre individuellen Eigenheiten gleichzeitig
in gut verträgliche Bahnen zu lenken, damit alle gut miteinander auskommen.
Die folgenden Beispiele zeigen, wie diese Aufgabe von den Betreuungspersonen
gemeistert wird.
Frau R. geht selbstständig auf die Toilette. Danach schafft sie es nicht ihre Hosen-
träger zu befestigen und so kommt es vor, dass die Hose ihren Hintern nur halb
oder gar nicht verdeckt. Frau R. geht aber auch zu keiner Betreuungsperson, um
sie zu bitten, ihr zu helfen. Dabei hängt es von der Aufmerksamkeit der dienstha-
benden Betreuungspersonen ab, wie lange Frau R. halbnackt durch die WG gehen
muss. Manchmal reagieren die Betreuungspersonen sofort, aber es kommt auch
vor, dass Frau R. lange hin- und hergehen muss, ehe etwas unternommen wird.
Frau R. setzt sich kaum einmal mal in ihrem unfertigen Aufzug hin und wenn doch,
so möchte sie dann nicht mehr aufstehen, um sich vollständig anzukleiden.
Die junge Frau hat genaue Vorstellungen, was sie anziehen möchte. Selbst wenn
sie zum Beispiel ein T-Shirt schmutzig macht, will sie es nicht wechseln. Dieses
Verhalten von Frau R. führte schließlich dazu, dass die Betreuungspersonen beim
Kauf von T-Shirts immer mehrere gleiche mitnehmen, wodurch ein ständiger Kon-
flikt zwischen ihr und den Betreuungspersonen umgangen werden kann.
Auf die Idee bestimmte Kleidungsstücke, die von Frau R. ausgesucht werden,
gleich im 3er- oder 4er Pack zu kaufen, sind die Betreuungspersonen vor vier Jah-
ren noch nicht gekommen. Damals mussten sich die Betreuungspersonen anders
helfen, wie der folgende Protokollausschnitt aus dem Jahre 2009 zeigt: „Frau R.
wird um halb sieben Uhr geweckt, sie will zunächst nichts vom Aufstehen wissen
und zieht die Decke wieder über den Kopf. Nach wiederholten Versuchen verlässt
sie schließlich ihr Bett und sucht ihre Kleider. Bei ihrer Kleidung geht sie von be-
stimmten Überlegungen aus. Es beginnt bei der Unterhose, dem BH, der Hose und
endet bei der Bluse. Heute muss es ein bestimmter blaugefärbter BH sein, den sie
anziehen will, alle anderen Vorschläge lehnt sie ab. Die Betreuerin findet ihn zum
Glück in der Waschküche unter der Schmutzwäsche.“
An diesem Beispiel zeigt sich auch deutlich, dass es sinnvoll ist, wenn die Betreu-
ungspersonen auf die Eigenheiten der BewohnerInnen weitgehend Rücksicht neh-
men und sich überlegen, wie sie ständige Reibungspunkte im Betreuungsalltag
möglichst gut entschärfen können.
Frau A., die vor vier Jahren oft sehr laut geschrien hat und auch laute Musik spiel-
te und dadurch alle AnwohnerInnen störte, hat ihre Ruhestörungen reduziert.
Zusätzlich wurde ihre Türe mit einem Dämmstoff verkleidet und die Fenster mit
schweren Vorhängen ausgestattet, um die unmittelbare Nachbarschaft im Wohn-
haus zu beruhigen. Mit den Lärmreduktionsmaßnahmen wurde diesem häufigen
Konflikt gut begegnet.