Jahresbericht 2013 - page 19

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Frau N. rückte vor vier Jahren häufig ihre Möbel von einer Ecke zur anderen. Die
Betreuungspersonen haben angefangen, das Bett mit Klebestreifen zu fixieren.
Diese Fixierung wurde mittlerweile durch Schrauben ergänzt, so dass Frau N. ihr
zwanghaftes Verhalten nicht mehr ausüben kann, was für sie auch eine große
Erleichterung darstellt. Jetzt räumt sie nur mehr die Wäsche um, was längst nicht
mehr so anstrengend ist und weniger Zeit in Anspruch nimmt.
Die Betreuungspersonen müssen sich erst auf die neue Bewohnerin Frau P. ein-
stellen und umgekehrt Frau P. auf diese. In den ersten Tagen kommt es zu fol-
gender Konfliktsituationen: „Frau P. meldet sich nicht mit ihrem Namen über die
Gegensprechanlage. Sie ignoriert das Verbot, die WG mit Schuhen und Mantel zu
betreten. Anfangs will sie auch die Zigarettenregelung nicht akzeptieren. Erst nach
mehrmaliger Aufforderung lässt sich Frau P. darauf ein, ihre Zigaretten und das
Feuerzeug den Betreuungspersonen zu übergeben. Kurz nachdem ihre Zigaretten
in sichere Verwahrung genommen worden sind, meldet Frau P. ihren Wunsch eine
Zigarette rauchen zu wollen und begibt sich auf die Terrasse. Danach sagt sie, dass
sie jetzt einen Kaffee trinken will und geht in die Küche, wo sich zufällig Herr F.
bereits eine Tasse eingeschenkt hat. Ohne lang nachzudenken, bietet er Frau P.
seine gefüllte Tasse Kaffee an, diese nimmt sie mit einem zufriedenen Gesichts-
ausdruck aber ohne ein „Danke“ entgegen, begibt sich zur Couch und setzt sich
nieder. Herr F. muss den Kaffee neu zubereiten, weil Frau P. die letzte Tasse aus
der Kanne bekommen hat. Frau P. sitzt mit gesenktem Kopf vor ihrer Schale Kaffee
und trinkt sie langsam aus.
Dabei wird sie von einer Betreuungsperson erinnert, doch den Mantel abzulegen
und die Schuhe auszuziehen. Der letztgenannten Aufforderung kommt sie nach.
Plötzlich sagt sie: „Ich gehe jetzt ins Bett und leg mich schlafen.“ Daraufhin geht
sie in ihr Zimmer. Als die Betreuungsperson realisiert, was sich Frau P. vorgenom-
men hat, klopft sie an und bittet sie, vor dem Schlafengehen noch ins Bad zu
gehen, um die Abendtoilette zu machen und die Zähne zu putzen. Frau P. wehrt
sich dagegen und schreit verzweifelt: „Ich will nicht. Lass mich in Ruhe. Ich will
jetzt schlafen“. Die Betreuungsperson lässt jedoch nicht locker, so dass sich Frau P.
schließlich mit dem Zahnputzbecher in der Hand ins Bad begibt.
Schnell ist sie mit ihrer Reinigung fertig und geht danach sofort ins Bett.
An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Rücksichtnahme auch ihre Grenzen hat. Mit
Schuhen die WG zu betreten wird noch toleriert, die Zigarettenverwahrung aber
wird durchgesetzt und auch ein Mindestmaß an Körperpflege wird eingefordert.
Soziales Verhalten außerhalb der WG
Gleich mehrere Male hatte ich während meines Forschungsaufenthaltes Gelegen-
heit, das soziale Verhalten einiger BewohnerInnen außerhalb der WG zu beobach-
ten. Von Frau N. und Herrn F. hörte ich, welche Lokale für sie in Frage kommen
und welche nicht. Herr F. fühlt sich vor allem in Gaststätten wohl, wo das Rauchen
erlaubt ist.
Eines Tages begleitete ich auch Herrn A., der mich fragte, ob ich mit ihm mal kurz
rausgehe. Zielsicher ging Herr A. schnellen Schrittes in ein Lokal, das in einem
Einkaufszentrum liegt und das er schon öfters aufgesucht haben muss. Er stellte
sich selbstverständlich an die Theke und bestellte ein Wiener Schnitzel mit Erdäp-
felsalat. Mit dem Messer tat er sich schwer, doch von mir helfen ließ er sich nicht.
Ich musste ihm ein anderes Messer besorgen, da er meinte, dass seines nicht gut
schneiden würde. Ständig schaute er um sich und grüßte verschiedene Passan-
tInnen. Er fühlte sich sichtlich wohl. Der Aufenthalt in diesem Selbstbedienungs-
laden gefiel ihm so gut, dass er hinterher noch in ein Café gehen wollte. Als ich
ihm diesen Wunsch ausschlug, reagierte er nicht besonders charmant. Zunächst
machte er einige Male den Tonfall meines „nein“ nach, er zeigte mir die Zunge und
gab so deutlich zu verstehen, was er von mir hielt. Beim Gehen schlug er einen
schnellen Schritt an, sodass es den Eindruck erwecken musste, er gäbe hier den
Ton an. Weil ich mir nicht sicher war, ob er bei Straßenüberquerungen genügend
achtsam ist, hielt ich ihn bei „Rot“ kurz am Oberarm, worauf er sich sofort von
meiner beschützenden Geste befreite.
Herr A. zeigt mit diesem Verhalten, dass er sehr gut alleine zu Recht kommt. Zwar
trägt er einen Helm, der ihn als Mann mit Beeinträchtigung ausweist, aber ansons-
ten lässt er sich nicht anmerken, dass er eine Einschränkung hat. Herr A. hat ein
äußerst selbstbewusstes Auftreten, das ich bei ihm vor vier Jahren so noch nicht
beobachten konnte. Damals brauchte er viel Zuspruch und aufmunternde Worte.
Bei einem zweiten Ausgang habe ich Frau N., Herrn F. und Frau R. begleitet. Aus
dem Protokoll: „Frau N. fragt mich, ob ich mit ihr eine Runde mache. Herr F.
schließt sich uns an. Als wir Richtung Ausgang gehen, kommt uns Frau R. nach.
Auch sie will mit. Aus Gewohnheit holt sie noch ihren Rucksack aus dem Zimmer,
obwohl sie ihn nicht braucht. Wir gehen den Gehsteig entlang, ab und zu macht
Frau R. einen kleinen Seitenschritt und klappt einen Scheibenwischer eines par-
kenden Pkw auf und zu. Dieses Spiel wiederholt sie einige Male. Als wir bei einer
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