Jahresbericht 2013 - page 20

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Konditorei vorbeikommen, setzt Frau R. ihr ganzes Körpergewicht ein, um mich
in das Lokal zu drängen. Ich gebe schnell nach und lade alle drei BewohnerInnen
auf Kaffee und Kuchen ein. Interessant ist, dass sich die drei BewohnerInnen im
letzten Eck im Lokal in der Nähe der Toiletten, nicht an einem schönen Tisch am
Fenster mit Blick hinaus auf den Gehsteig und in unmittelbarer Gesellschaft ande-
rer KaffeehausbesucherInnen niederlassen.
Wir werden freundlich bedient, lassen uns alles gut schmecken und gehen danach
wieder Richtung WG. Einmal will Frau R. ein weiteres Geschäft stürmen, ich kann
sie aber ohne große Mühe davon abhalten. Plötzlich kommen wir an einer Tra-
fik vorbei, wo der Inhaber gerade den Zigarettenautomaten neu auffüllt. Obwohl
Frau R. nicht raucht, schnappt sie sich ein Packerl Zigaretten. Es kommt zu einem
kleinen Handgemenge im Zuge dessen der ‚Überfall‘ rückgängig gemacht werden
kann. Gut gelaunt setzt Frau R. den Weg fort, sie läuft sogar zwischendurch, so-
dass Frau N. und Herr F. uns kaum folgen können. Vor der Kreuzung muss ich sie
stoppen, danach läuft sie wieder in Richtung WG. Sie bleibt den ganzen weiteren
Abend gut gelaunt. Sie versucht zwar einige Male in den Vorratsraum zu gelangen
und sie greift auch zum heißen Topf am Herd, es ist aber kein Problem sie recht-
zeitig zu warnen und abzuhalten. Einmal unternimmt Frau R. einen halbherzigen
Versuch, sich an der Jause von Frau D. zu beteiligen, aber als diese Bewohnerin
daraufhin einen Platzwechsel vornimmt, zeigt Frau R. kein Interesse mehr.“
Im Vergleich zum Jahre 2009 hat sich das soziale Verhalten von Frau R. stark ver-
bessert. Damals liest sich das Protokoll über sie so: „Wenn Frau R. etwas in die
Finger bekommt, lässt sie es nicht mehr los. Die Zeitungsverkäufer auf der Stra-
ße sind in Gefahr, weil sie ihnen ihre Zeitungen wegschnappt. Einmal hat sie am
Christkindlmarkt einem fremden Besucher sein halbes Essen weggenommen, als
dieser es einen Augenblick aus den Augen ließ.“
Das heißt, vor vier Jahren hätte ich das Paket Zigaretten zahlen müssen, ich hätte
keine Chance gehabt, es ihr wieder zu entwenden und unbeschädigt zurückzustel-
len.
Wenn die BewohnerInnen in der Konditorei den hintersten Platz weitab von allen
anderen BesucherInnen dieses Lokals einnehmen, kann das als Symbol ihrer so-
zialen Außenseiterposition interpretiert werden. Der kleine „Überfall“ zeigt, dass
im öffentlichen Raum Grenzen überschritten werden. Das Spielen mit Scheiben-
wischern fällt sonst niemanden außer Frau R. ein. Frau R. nimmt die Außenwelt
anders wahr, für sie ist alles sehr lustig und aufregend. Dass Menschen mit Beein-
trächtigungen andere Menschen mit ihrem sozialen Verhalten oft irritieren, zeigte
sich vor allem beim Inhaber der Trafik, der zunächst völlig fassungslos war und
hinterher nicht wusste, ob er schimpfen oder lachen sollte. Er entschied sich für
die zweite Variante.
Soziale Kontakte
Da sich die BewohnerInnen der WG auch häufig außerhalb der WG aufhalten
und in der Umgebung gut auskennen, haben sie auch im Wohnumfeld einige so-
ziale Kontakte aufgebaut. In den verschiedenen Konditoreien und Cafés sind die
BewohnerInnen bereits gute Bekannte. Besonders erfreut sind sie, wenn sie na-
mentlich gegrüßt werden. Herr F. hat während meines Aufenthaltes ein kleines
Café entdeckt, in dem das Rauchen erlaubt ist und wo er sich mit der Wirtin gut
unterhält, deren Vornamen er oft nennt.
Außer diesen wichtigen, wenn auch flüchtigen sozialen Kontakten können die Be-
wohnerInnen in der Regel auf ihre Familie zählen, die MitbewohnerInnen samt
Betreuungspersonal und TherapeutInnen, die FahrerInnen der Fahrtendienste
und die „ArbeitskollegInnen“ sowie wiederum die Betreuungspersonen der Ta-
gesstruktur. Unter all diesen sozialen Kontakten gibt es üblicherweise Personen,
zu denen sie einen besonders guten Kontakt haben. Deutlich kommt die Rangrei-
hung der persönlichen FavoritInnen bei Frau A. zur Geltung. Aus dem Protokoll:
„Frau A. erzählt heute ständig dasselbe. Sie sagt im Wesentlichen: „Koffer packen,
Niki (= Betreuerin) schreibt Liste, was zu packen ist, sie packt eine Hose und einen
Bikini ein. Und dann sitzt da vorne ein Edgar (= Exbetreuer oder Fahrer), sie legt
den Gurt an und ruft ihrer Mama und ihren Papa: ‚Tschüss, baba‘ zu. Sie lacht und
wiederholt mehrere Male die ganze Geschichte, mit wenigen Abänderungen.“
Die Bezugsbetreuerin, ein Chauffeur und die Eltern spielen in dieser Geschichte
die Hauptrollen. Das positive Signal ist, dass diese junge Frau sich besonders da-
rüber freut, dass sie mit ihren MitbewohnerInnen oder ArbeitskollegInnen wie
jedes Jahr auf Urlaub fahren wird. Offensichtlich sind die außerfamiliären sozialen
Kontakte für sie von hoher Bedeutung und sie kann auf die familiären zunehmend
verzichten.
Herr C. wiederum hat einen sehr engen Kontakt zu seiner Familie, die ihn jedes
Wochenende jeweils am Samstag, Sonntag und zusätzlich jeden Feiertag, sofern
dieser an ein Wochenende anschließt, abholt und mit ihm den ganzen Tag ver-
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