Jahresbericht 2013 - page 11

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Wohnraum bedient er den Fernseher, er gibt die Fernbedienung nicht aus der
Hand. Die anderen MitbewohnerInnen freuen sich, wenn sie Musik hören, sie
wippen mit oder schlagen mit den Händen den richtigen Takt.
Herr S. ist sichtlich froh, dass ich da bin. Er verfolgt mich auf Schritt und Tritt, so-
dass es schwierig ist, die anderen BewohnerInnen kennen zu lernen. Selbst wäh-
rend des Abendessens soll ich mich neben ihn setzen. Ich unterhalte mich mit
Herrn A., der neben zwei weiteren Frauen an unserem Tisch sitzt. Ich erzähle ihm
einiges aus meinem Leben, was er sehr lustig findet. Erst danach fällt mir auf,
dass hier während des Essens nicht geredet wird. „Tante, Tante“, ruft Herr A. die
Betreuerinnen, was diese aber ignorieren.
Herr A. isst nur wenig, dennoch passiert es, dass sein belegtes Brot wieder auf
dem Teller landet. Eine Betreuerin ist gleich zur Stelle, entsorgt den Rest und be-
ruhigt ihn. Sie sagt zu ihm: „Das kommt davon, wenn du während des Essens re-
dest. Du solltest das nicht tun.“
In der Küche gibt es zwei Tischreihen, was nicht besonders kommunikationsför-
dernd ist. Da die BewohnerInnen aber offenbar beim Essen ohnehin nicht viel
reden sollen, unterstützt die gewählte Sitzordnung das Redeverbot.
Die Küche bleibt meist abgesperrt. Nur gegen 16.00 Uhr ist sie kurz offen, weil die
BewohnerInnen um diese Zeit zwischen einem Apfel und einem Joghurt wählen
können. Obwohl Herr A. einen Apfel wünscht, wird ihm ein Fruchtjoghurt gege-
ben, das er mit großer Freude ausschleckt.
Am späteren Nachmittag begleite ich eine Betreuerin, die mit zwei Bewohnerin-
nen, Frau N. und Frau D., eine kleine Runde spazieren geht. Der Weg führt ohne
Umwege zum nächstliegenden Eissalon. Frau N. nimmt gleich Platz und bestellt
ein großes Eis mit Schlag. Frau D. sagt hingegen genau an, welche verschiedenen
Eissorten sie wünscht. Frau D. ist als erste fertig, steht auf, hält sich beide Oh-
ren zu und wiegt den Oberkörper hin und her. Die Betreuerin meint, dass sie das
wegen des Druckausgleichs machen muss. Die Kellnerin kennt Frau N. und fragt,
ob sie wieder kommen wird. Frau N. nickt begeistert und gibt ein langgezogenes
„Jaaaa“ von sich.
Danach suchen wir eine Änderungsschneiderei auf: Es geht um einen Flickauf-
trag. Danach suchen wir den Supermarkt auf. Die Betreuerin liest laut vor, was aus
der Obst- und Gemüseabteilung in den Einkaufswagen gelegt werden soll und die
beiden Damen erledigen das ohne Probleme. In der Kühlabteilung sollen sie 16
Fruchtjoghurt in den Wagen stellen, doch bereits bei acht Stück glauben sie die
verlangte Anzahl geschafft zu haben. Nur mit lautem Mitzählen legen sie weitere
acht Stück in den Einkaufswagen. Frau N. will sich aus dem Kühlregal ein Getränk
mitnehmen, doch die Betreuerin lässt das nicht zu. Frau N. verhandelt mit ihr:
„Morgen“. „Auch nicht Morgen“, kommt die keineswegs zufriedenstellende Ant-
wort der Betreuerin. Für die Kollegin, die heute Nachtdienst hat, wird Schokolade
eingekauft. Jede Nachtdiensthabende darf sich etwas wünschen. Beim Hinausge-
hen aus dem Supermarkt sagt Frau N. laut: „Auf Wiedersehen!“. Die Frau an der
Kassa erwidert freundlich ihren Gruß.
In der WG nimmt mich Herr S. wieder in Beschlag. Gegen 19.00 Uhr macht sich
seine Müdigkeit bemerkbar. Er sagt, dass er Schutzhosen tragen muss, seit er eine
Bauchoperation über sich ergehen lassen musste. Er zeigt mir die dicken Narben,
die sich über seinen Bauch ziehen. Herr S. putzt sich die Zähne und zieht sich da-
nach zur Nachtruhe in sein Zimmer zurück. Frau A. geht ebenfalls Zähne putzen
und will, dass ich sie dabei unterstütze. Herr C., der heute Besuchsdienst hatte
und nun wieder zurück in der WG ist, genehmigt sich das zweite Vollbad. Bereits
vor dem Ausgang legte er sich in die Badewanne und jetzt wieder, was ihm große
Freude bereitet. Frau R. rutscht die Pyjamahose über den halben Hintern. Sie, so
wird erzählt, hält sich am liebsten in der Küche auf und versucht wiederholt Ess-
bares zu organisieren. So wie sie aussieht, gelingt ihr das sehr gut.
2013 - Vier Jahre später
Zunächst nehme ich im Dienstzimmer Platz, wo ich mir ein wenig die aktuellen
Protokolle anschaue.
In der noch laufenden Teamsitzung sollte ich mich kurz vorstellen, aber dazu
kommt es nicht, weil noch einige Punkte offen sind, die zuerst besprochen werden
und danach fehlt die Zeit. Den Großteil der Gespräche nehmen gesundheitliche
Fragestellungen ein. Es geht um Fragen der Hygiene.
Das soziale Wohlbefinden einer neu in die WG übersiedelten Bewohnerin hat sich
noch nicht eingestellt. Es wird erzählt, dass sie schreit und sich sichtlich in der für
sie ungewohnten Umgebung noch nicht wohlfühlt. Es wird beschlossen, geduldig
mit ihr zu sein und abzuwarten.
Als ich Frau P. später treffe, zieht sie weder Schuhe noch Jacke in der Garderobe
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