Jahresbericht 2013 - page 8

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Der erste Besuch 2009
Ich habe mich telefonisch angemeldet. Vor der Tür stehend läute ich an und sage
über die Gegensprechanlage wer ich bin. Ein Betreuer macht die Tür auf und emp-
fängt mich mit den Worten: „Ich hasse es, wenn in meinem Dienst unangemeldet
Leute kommen“. Offensichtlich hat die Kommunikation zwischen Leitung und Be-
treuungspersonen nicht geklappt. Ich erkläre den Grund meines Besuches, doch
der Betreuer hört nur mit halbem Ohr zu und meint: „Es ist auch schon vorgekom-
men, dass ich in den Dienst gekommen bin und die Leute vor der Tür gewartet
haben. Der Fahrer vom Fahrtendienst hat sie zu früh gebracht, hat sie aussteigen
lassen und ist davon gefahren. Solche Überraschungen mag ich nicht. Ich komme
extra früher hierher, um mich in Ruhe auf den Dienst vorbereiten zu können. Ich
will zuerst das Protokoll lesen, damit ich am Laufenden bin.“
Nachdem der Betreuer alles gelesen hat, nimmt er sich Zeit mir einiges zu er-
zählen. Derzeit wohnen hier neun Personen, sechs Frauen und drei Männer. Sie
heißen: Frau R., Frau A., Frau N., Frau D., Frau T., Herr S., Herr A. und Herr C. Frau
G. lebt in der Einzelwohnung einen Stock weiter oben. Der Betreuer sagt gleich
dazu, dass diese Frau nicht besonders selbstständig ist, aber dennoch in einer
eigenen Wohnung lebt, weil sie sich vor Männern fürchtet. Die zweite Einzelwoh-
nung gleich nebenan steht momentan leer.
Der Betreuer war zunächst einige Jahre Springer und hat dann zwei Jahre in der
WG in der Erdbergstraße gearbeitet. Danach hat er sich zwei Jahre frei genommen
und wieder als Springer angefangen bis er fix in dieser WG beschäftigt wurde. Er
beschreibt seine Erfahrungen so: „Die Arbeit in diesem Bereich ist immer eine
Gratwanderung. Wir geben zwar die Spielregeln vor, aber wenn sich die Bewoh-
nerInnen nicht daran halten, können wir in Wirklichkeit nicht viel tun. Hier in der
Sedlitzkygasse ist vor allem die nonverbale Kommunikation gefragt, weil sich die
meisten BewohnerInnen verbal nicht ausdrücken können.“ Mit diesen Worten be-
reitet mich der Betreuer auf die einzelnen BewohnerInnen, die ich noch heute
und in den kommenden Tagen näher kennenlerne werde, vor. Er sagt auch, dass
das gemeinsame Abendessen nicht mehr so groß geschrieben wird wie früher. Er
begründet dies damit, dass die meisten BewohnerInnen ohnehin übergewichtig
sind und es besser für sie ist, wenn sie am Abend nicht mehr so viel essen.
Am Nachmittag arbeiten hier zunächst zwei Betreuungspersonen, um 16.00 Uhr
kommt die dritte Kollegin, die heute den Nachtdienst übernimmt. Die ersten ein-
einhalb Stunden ist der Betreuer allein im Dienst, weil seine Kollegin mit einem
Bewohner einen Arztbesuch absolviert. Die Kollegin kommt jedoch früher als ge-
plant bereits um 15.00 Uhr mit Herrn S. vom Arztbesuch zurück. Herr S. ist gerade
18 Jahre alt geworden und ein sehr aufgeweckter junger Mann. Sofort lädt er mich
ein, mit ihm eine Wuzzlerpartie im Aufenthaltsraum zu spielen. Herr S. beherrscht
dieses Spiel sehr gut, da er auch in der Arbeit dazu Gelegenheit hat. Allerdings ist
das Spielgerät schon leicht beschädigt, die dünnen Stangen sind verbogen und
während des Spiels geht eine Verteidigungskette kaputt, so dass an kein Weiter-
spielen mehr gedacht werden kann.
So lädt mich Herr S. in sein „Reich“, wie er sein Zimmer nennt, ein. „Hier bin ich
Chef“, sagt er stolz und schließt die Tür, damit die MitbewohnerInnen keinen Blick
auf uns werfen können. „Ich selbst kann bestimmen, wer mein Zimmer betritt und
wer nicht“, rechtfertigt er sein Handeln. Binnen kurzem öffnet er alle Laden und
zeigt mir seine Schätze, die er fein säuberlich in Schachteln aufbewahrt hat. Be-
sonders stolz ist er auf seinen Fernseher mit unzähligen Programmen, am liebsten
hört er sich Musiksender an, aber nur, wenn ihm ein Lied bzw. der Sänger oder die
Sängerin gefällt.
Herr S. erzählt davon, eine Schwester zu haben und einen Vater, dass er vorher in
einer Jugend-WG gelebt hat und jetzt hier. Die Schreierei der MitbewohnerInnen
hält er nicht gut aus, sagt er mir. Das ist auch ein Grund, warum er die Zimmertü-
re immer schließt. Herr S. ist sehr unruhig, ständig muss er etwas tun. Er macht
auch einiges gleichzeitig, zum Beispiel Musikhören und Musikfilm anschauen. Im
Ein neues Team – ein neues Spiel
Die Wohngemeinschaft in der Sedlitzkygasse gibt es seit 2007. In den Beobachtungszeitraum 2009 - 2013 fiel ein Leitungswechsel
und eine rege Personalfluktuation. Der Wohngemeinschaft für acht Personen sind zwei komplett ausgestattete Kleinwohnungen
angeschlossen. Dr. Konrad Hofer nimmt die Lerserinnen und Leser mit auf die Reise nach Simmering.
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